Die Wuensche meiner Schwestern
in Worte hatte fassen können. Sie hatte das Leuchten dieses Geheimnisses in sich gespürt. Mit vielen Abschweifungen und unter Entschuldigungen und Augenrollen berichtete ihre Mutter ihnen davon, was die Leute sagten, welche Vorstellungen manche Leute hatten und wie jeder sich seine eigene Geschichte zusammenreimte, doch niemand irgendetwas sicher wusste, denn schließlich war es doch nur ein Ammenmärchen, ein Familienmythos, eine Geschichte, wie jede Familie sie besaß. Irgendwann drehte sich die Ansprache ihrer Mutter in Kreisen, die sich zu Spiralen öffneten, die Nessa mit geschlossenen Augen nachvollzog, bis sie mit zusammengebissenen Zähnen innerlich schrie: Bitte, bitte, bitte, sag es doch endlich!
Und dann sprach ihre Mutter es aus. Und alle Ausflüchte und halbherzigen Entschuldigungen konnten nichts daran ändern, dass es im Raum landete wie eine fette schwarze Kanonenkugel, die durch die Decke krachte und die Dielen spaltete. Weil es Magie war.
Nessa hätte schwören können, dass die Strickerei als Erwiderung ächzte.
* * *
Als Bitty etwas später verkündete, sie und Nessa würden jetzt einkaufen gehen, brauchte sie Meggie gar nicht erst aufzufordern, mit Carson zu Hause zu bleiben. Meggie war froh, zu sehen, dass Bitty und ihre Tochter sich gut verstanden, und sie mochte Carson. Er war womöglich derjenige, den sie von allen in der Strickerei ambesten verstand – vielleicht weil sie beide die Jüngsten waren.
»Möchtest du rausgehen und irgendwas unternehmen?«, fragte sie ihn. Ohne ihre Schwestern fühlte sich die Strickerei leer und beklemmend an.
»Ob wir das möchten? Natürlich möchten wir das«, erwiderte Carson, und Meggie lachte. Sie hatte ihm irgendwann im Laufe des Tages – sie wusste nicht mehr, wie sie darauf gekommen waren – den Pluralis Majestatis erklärt, und er hielt es für die lustigste Sache, die er je gehört hatte. Seitdem bezeichnete er sich nur noch als »wir«, wobei er eine niedliche königliche Haltung einnahm. »Aber wie sollen wir ohne Auto irgendwohin kommen?«
»Oh, bitte. Du hast zehn Jahre zu lang in der Vorstadt gelebt«, stöhnte Meggie. »Hast du dein Halloween-Kostüm dabei?«
»Ja.« Er schob seine kleine Unterlippe nach vorn.
»Als was wirst du gehen?«
»Als Dalmatiner. War Moms Idee.«
Meggie runzelte mitleidig die Stirn. »O Mann. Das ist ziemlich lahm. Hat sie denn gesagt, dass du als Dalmatiner gehen musst?«
»Na ja.« Er dachte fieberhaft nach. »Eigentlich nicht. Aber ich kann das Kostüm nicht selber machen, das muss sie tun. Also muss ich als das gehen, was sie will.«
»Vielleicht lässt sich daran ja etwas ändern.«
Sie suchte die überall verstreuten Einzelteile seiner Winterklamotten zusammen, steckte ihn hinein und knöpfte alles zu, bis er warm verpackt war. Dann betraten sie die Straßen von Tappan Square. Meggie hatte keine Angst davor, durch ihre alte Nachbarschaft zu laufen, doch aus reiner Gewohnheit warf sie kurze, prüfende Blicke auf entgegenkommende Passanten, gab auf düstere Gassen acht und merkte sich unbewusst, in welchen Häusern Licht brannte. Es war noch nicht spät, doch dieSonne ging nun jeden Tag früher unter, und die Farbe des Himmels verwandelte sich bereits von Grau zu Schwarz. Während sie auf das Stadtzentrum zuschlenderten, hielt sie Carson an der Hand und sprach mit ihm über Optionen für sein Halloween-Kostüm.
Meggie gab gern damit an, eine Art Halloween-Expertin zu sein. Halloween war so phantastisch wie alle anderen Feiertage zusammen, nur ohne all den Stress und das Drama. In welcher Stadt sie auch war, immer hatte sie irgendwelche Leute gefunden, mit denen sie Halloween feiern konnte. Ihre Kostüme waren legendär – keine nuttigen Vampirkleidchen oder Prinzessinnenkorsetts. Ein gutes Halloween-Kostüm war mehr als eine Verkleidung; es spiegelte den Zeitgeist. Als Kind war sie einmal als Terrakottafigur gegangen. In einem anderen Jahr war sie der Nintendo-Gorilla aus Donkey Kong gewesen. Einmal hatte sie ein hübsches Kleid mit Empire-Taille aufgestöbert und es mit so viel Kunstblut beschmiert, dass sie den Leuten erzählen konnte, sie sei Jane Austens Zombie, und sie war davon überzeugt, die darauffolgende Welle lustiger Zombie-Bücher losgetreten zu haben, indem sie einem der Autoren in einer Bar aufgefallen sein musste. Und, na gut, einmal war sie auch als nuttige Vampirbraut gegangen. Es war ihr zu dem Zeitpunkt angemessen erschienen.
Sie führte Carson zur Bushaltestelle, wo sie in
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