Die Wuensche meiner Schwestern
Haustelefon verbunden, so dass die Familienmitglieder miteinander sprechen konnten, auch wenn sie sich nicht im selben Raum befanden. Aber die Strickerei … sie hatte etwas, was ihr eigenes Haus nicht hatte: Sie war ein Gebäude, das Geheimnisse erzählen konnte. Und Nessa stellte fest, dass die Strickerei ihr diese Geheimnisse auch preisgeben wollte.
Sie strickte gerade, Carson lag auf seinem Bett und spielte ein Computerspiel, als ihre Mutter ohne Vorwarnung ins Zimmer rauschte. Vielleicht hatte sie sogar geklopft, aber das Stricken stellte etwas mit Nessas Gehirn an, ließ es ganz leicht werden und beinahe davonschweben, und so hörte sie ihre Mutter nicht kommen. Zu spät blickte sie von ihrem Schal auf, der wie ein lila Wasserfall über die Bettkante fiel.
»Sch – eibenkleister«, entfuhr es Nessa. Sie bemühtesich noch kurz, ihr Strickzeug zu verstecken, merkte jedoch, dass es vergeblich war, und brachte ihr benebeltes Gehirn in Gang: »Ich habe mir gerade diesen Schal angesehen, den Tante Aubrey im Moment strickt. Ich wollte nur mal sehen, ob ich – «
»Lass gut sein«, unterbrach ihre Mutter sie. »Ich weiß Bescheid.«
Nessa warf ihrem Bruder, der sie nun von der anderen Seite des Raumes aus beobachtete, einen finsteren Blick zu.
»Du kleines Miststück!«, fuhr sie ihn an. Seine Augen weiteten sich in gespielter Unschuld.
»Ich weiß es nicht von deinem Bruder«, erklärte Bitty. »Aubrey hat es mir erzählt. Sie hat mir auch erzählt, dass du im Turm gewesen bist.«
Die Wut kochte in Nessa hoch, wie sie es manchmal tat, heiß und ungestüm wie ein heftiger, plötzlicher Wirbelsturm. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihr Herz raste. Sie warf den Schal auf den Fußboden. Die silbernen Nadeln klapperten auf dem Holz, und der letzte Rest des Wollknäuels rollte davon. »Das machst du jedes Mal! Immer nimmst du mir alles weg, was mich glücklich macht!«
Sie sprang auf die Füße, aber ihre Mutter war sofort bei ihr und packte sie an den Schultern. Nessa wollte sich losreißen, doch dann sah sie, dass der Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht so sehr Verärgerung, sondern vielmehr Angst zeigte.
»Nessa«, sagte Bitty und hielt die Hände ihrer Tochter fest.
Nessa verstummte. Der Griff ihrer Mutter störte sie, und sie befreite sich daraus.
»Setz dich hin.«
Sie setzte sich. Sie sah zu, wie sich ihre Mutter bückte und den Schal, das Wollknäuel und die Nadeln vom Boden aufhob. Sie stand mit Nessas Arbeit in der Hand da undbetrachtete sie mit gerunzelter Stirn. Nessa wäre weniger nervös gewesen, hätte Bitty statt des Schals ihr letztes Zeugnis in der Hand gehalten.
»Nicht schlecht«, meinte ihre Mutter schließlich. »Deine Maschen sind schön ebenmäßig.«
»Aber sie sind nicht perfekt«, wandte Nessa vorsichtig ein, noch unsicher, ob dies vielleicht ein Test war. »Manche sind lockerer oder fester als die anderen.«
»Wenn du fertig bist, spannen wir es. Dadurch wird alles gleichmäßiger.«
»Hast du ›spannen‹ gesagt?«
»Ja. Deine Großtante Mariah hat uns erklärt, das Spannen bringe die Maschen dazu, sich untereinander auszutauschen. Wir feuchten das Gewebe an, ziehen ein paarmal vorsichtig daran und stecken es dann in der Form fest, in der wir es haben wollen.«
»Und so bleibt es dann?«
»Wenn wir es richtig machen«, erwiderte Bitty.
»Also … heißt das, dass du nicht sauer bist?«
»Weswegen denn?«, wollte Bitty wissen.
Nessa war verwirrt. Sie hatte immer angenommen, Wolle, Stricken und alles, was mit der Strickerei zu tun hatte, wären für sie tabu, da ihre Mutter zwar aus einer Familie professioneller Strickerinnen kam, jedoch nie auch nur einen Strang Wolle bei Wal-Mart in die Hand genommen hatte, um zu sehen, wie er sich anfühlte. Nessa wurde das Gefühl nicht los, in eine Falle gelockt zu werden.
»Darf ich?«, fragte Bitty und wies auf Nessas Bett. Dass sie um Erlaubnis fragte, ob sie sich setzen dürfe, war auch neu.
»Von mir aus«, gab Nessa zurück.
Ihre Mutter setzte sich. Die alte Federung keuchte unter ihrem Gewicht. »Wisst ihr, ich habe euch wohl noch nicht allzu viel über die Strickerei erzählt.«
Die Untertreibung des Jahres, dachte Nessa.
»Was ist das für Zeug, das im Turm versteckt ist?«, fragte Carson. Er kletterte zu ihnen aufs Bett und kuschelte sich wie ein kleines Kind an seine Mutter.
»Ach, das«, erwiderte Bitty. »Nun, wisst ihr …«
Und dann erzählte sie nach und nach, was Nessa erwartet hatte, auch wenn sie es nicht
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