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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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entdeckt, begann er es ausgiebig zu untersuchen.
    »Das ist nicht wahr!« Sie schüttelte ihn so lange, bis er endlich das Glas wieder abstellte und sie ansah. »Wie soll er verschwunden sein? Er ist doch gar nicht in der Lage, allein irgendwohin zu gehen. Du und Roswitha, ihr musstet ihn doch zu zweit stützen, um ihn überhaupt aus dem Lager zu bringen.«
    »Na ja, so schlecht zu Fuß war er dann doch nicht.« Noch immer konnte Rupprecht ihr nicht in die Augen sehen. »Vielleicht ist er einfach ein guter Täuscher und hat uns alle an der Nase herumgeführt. Oder aber«, er legte eine bedeutungsvolle Pause ein, während der er von ihr zu Roswitha sah, »oder aber jemand hat ihn gefunden und fortgeschleppt, mit einem Karren oder auf einem Esel. Nach einem Kampf sah es in der Höhle jedenfalls nicht aus.«
    33
    Eine Stunde vor Anbruch der Morgendämmerung erklang das Signal der Trommler, mit dem das Fußvolk zur Vergatterung gerufen wurde. Die ganze Nacht hindurch hatte Magdalena auf dieses erlösende Zeichen gewartet. Schlafen konnte sie nicht. Jeder Augenblick, der verstrich, entfernte sie ein Stück mehr von ihrem Kind. Zwei Tage waren vergangen, seit sie die Kleine zuletzt in Seumes Zelt gesehen hatte. Verzweifelt biss sie sich auf die Lippen. Längst brannten die, weil die obere Hautschicht aufgerissen war. Tränen hatte sie keine mehr. Zu viele hatte sie in den letzten beiden Tagen vergossen. Mit dem Ertönen des Signals konnte sie endlich aus dem Wagen klettern und wieder etwas tun, statt sich unruhig auf der Matte hin und her zu wälzen und die schlimmsten Befürchtungen über Carlottas Schicksal zu hegen.
    Vergebens war Roswitha am vorigen Tag zum Haus des Kommandanten in Amöneburg gegangen. Elsbeth hatte man dort seit Wochen nicht mehr gesehen. Magdalena suchte unterdessen die nähere und weitere Umgebung nach dem Kind und der Cousine ab. Nirgendwo fand sich auch nur die geringste Spur. So schnell wollte Magdalena es nicht aufgeben, wenigstens auf einen klitzekleinen Hinweis zu stoßen. Sonst würde sie die Gegend auf keinen Fall verlassen. Um Eric machte sie sich dagegen kaum Sorgen. Dass er sich durchschlagen konnte, hatte er schließlich schon in den letzten beiden Jahren bewiesen. Sie schluckte. Ihn zu vergessen würde nicht leicht werden, leichter aber, als die Suche nach Carlotta aufzugeben.
    Noch lag Dunkelheit über der Lagerstatt. Ein milder Wind strich durch die Gassen. Magdalena rieb sich die Arme, weniger, um sich aufzuwärmen, als vielmehr, um die Unruhe zu besiegen. Aufmerksam glitt ihr Blick über jeden, der ihr begegnete. Verschlafen krochen die Männer aus den Unterkünften und nahmen am Versammlungsplatz Aufstellung, während die Frauen begannen, das spärliche Hab und Gut der Söldnerfamilien zusammenzuraffen. Ab und an musste Magdalena sich ein wenig recken, manchmal bücken, um einen Blick unter die Planen und Umhänge zu werfen. Hinter jedem Zipfel konnte sich Elsbeth mit Carlotta verbergen.
    Kinder schrien, Männer schimpften, Weiber zeterten. Dazwischen kläfften Hunde. Die wenigen Hühner, die die langen, mageren Wochen in der Ebene von Amöneburg überlebt hatten, gackerten aufgeregt und hackten mit den spitzen Schnäbeln nach allem, was sich bewegte. Immer wieder scheuchte Magdalena eines der Viecher verärgert fort. Der Dauerregen war im Lauf der letzten Nachtstunden in ein dünnes Nieseln übergegangen. Wie ein feiner Vorhang hüllte die Feuchtigkeit sie ein, ließ das dünne Schultertuch klamm und die roten Haare nass werden. Bald vermochte sie nicht mehr zu unterscheiden, ob es sich schon um feuchten Nebel oder weiterhin noch um feinen Regen handelte. Es wurde schwerer, die Gesichter der Menschen zu sehen. Die meisten huschten mit eingezogenen Köpfen und hochgereckten Schultern umher, den Körper bedeckt mit unzähligen Tüchern und Umhängen. Die Schlammpfützen zwischen den halb abgebrochenen Unterkünften vergrößerten sich zusehends und erforderten es, den Blick aufmerksam zu Boden zu richten.
    Wieder versank Magdalena in einem Dreckloch und spürte, wie das Wasser in die Schuhe lief. Als ihr darüber ein derber Fluch entwischte, herrschte eine Frau sie an: »Halt dein Maul und pack mit an!« Gerade schickte sich die Fremde an, mit der rechten Hand eine Holzkiste auf einen Karren zu heben, während sie mit der Linken ein kleines Kind festzuhalten suchte, das sich schreiend wehrte. Die rotblonden Locken flogen wild durch die Luft, der kleine Kopf fuhr ungestüm hin und

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