Die Wundärztin
Erinnerung würde sie wohl ihr ganzes Leben verfolgen. Niemals würde sie vergessen, dass sie sich als kleines Mädchen in Königsberg bereits zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit inmitten einer verheerenden Brandkatastrophe befunden hatte. Aus tiefem Schlaf war sie aufgeschreckt, hatte den gefürchteten beißenden Qualm im Hals gehabt, gehustet und gekeucht, das gefährliche Knistern dicht an ihrem Ohr gehört. Schon spürte sie wieder die entsetzliche Angst, die sie seit Magdeburg in oft wiederkehrenden Alpträumen quälte. Um sie herum loderte tatsächlich wieder ein Feuer, knarrte in den Balken, wehte immer näher an die Fenster des Quartiers heran. Dieses Mal allerdings tauchte kein halbwüchsiger, rotblonder Junge auf, um sie aus der brennenden Hölle zu retten. Dafür stand die hochschwangere Mutter vor ihr und krallte ihr die Finger in den Arm. Der Vater trug sie ins Freie, weit, weit fort, wie ihr schien. Erst als sie sich in sicherer Entfernung der prasselnden Flammen befanden, hörte sie auf zu schreien. Die ganze Zeit über hatte sie den Bernstein fest umklammert und wusste seither, dass er sie wirklich vor allem Unglück bewahrte, selbst wenn Eric nicht bei ihr sein konnte.
Babette aber war plötzlich vor ihren Augen zusammengebrochen. Magdalena dachte, die Mutter wäre wegen des frisch überstandenen Feuers von Sinnen. Sie begann zu wimmern und fürchterlich zu zucken und zu krampfen. Erst als ein rotes, blutiges Bündel zwischen ihren Beinen zum Vorschein kam, hörte sie damit auf. Magdalena musste das seltsame Ding aufheben und mit dem Rockzipfel säubern. Da erst begriff sie, dass es ein Kind war, mit dem die Mutter mitten auf dem Platz niedergekommen war. Es atmete nicht. Voller Ekel warf sie es in eine nahe gelegene Scheune, in der noch ein letztes Feuer loderte. Die Mutter hatte hinterher lange nach dem toten Kind gesucht, immer wieder nach ihm gefragt und sogar dem Vater vorgeworfen, er habe es verkauft: Es sei nicht tot gewesen, und er habe von einer Frau, die keine Kinder haben konnte, viel Geld dafür bekommen! Magdalena hatte das gehört, sich aber nie getraut, einem der beiden die Wahrheit zu gestehen. Warum die Mutter nicht froh war, das hässliche Balg los zu sein, hatte sie sich einige Jahre noch gefragt. Bis sie eines Tages selbst ein Kind hatte und nichts schlimmer fand als die Vorstellung, es zu verlieren. Genau in diesem Alp befand sie sich jetzt.
»Magdalena!« Rupprecht schüttelte sie. Als sie nicht reagierte, versetzte er ihr eine Ohrfeige, dann noch eine. Da erst erwachte sie aus dem bösen Traum. »Tut mir leid. Ich wollte dir nicht weh tun.« Er hauchte ihr einen Kuss aufs rote, nasse Haar. »Alles ist gut. Es ist vorbei.«
Als sie sich an ihn lehnte, strich er tröstend über ihren Kopf und fasste nach ihrer von Sommersprossen übersäten Hand. Mild wanderte der Blick seiner dunklen Augen über ihr Gesicht. Dankbar folgte sie ihm endlich ins Innere der Apotheke.
»Ich dachte schon, ihr Turteltäubchen hättet mich vergessen«, rief ihnen der weißhaarige Mann vorwurfsvoll entgegen.
21
Das Innere der Offizin spiegelte das Schicksal der Stadt wider: Von den einst raumhohen Regalen war kaum eines heil geblieben. Die letzten Latten lehnten zerschlagen an der Wand. Eine Schublade diente einer mageren Katze als Lager für ihren noch magereren Nachwuchs, in einer zweiten sammelte sich Asche. Das restliche Holz hatte wohl längst irgendwo als Brennholz hergehalten. Wer brauchte schließlich Regale, wenn es nichts gab, um sie zu füllen? Die kostbaren Porzellangefäße mit Kräutern und Pulvern, auf die Medikus Briegel einst so stolz gewesen war, waren gewiss schon bei der ersten Plünderungswelle nach Tillys Rückzug zerschlagen worden oder im Zuge der Pestepidemie 1633 verschwunden, als man sich an jede noch so vage Hoffnung auf rettende Medizin klammerte. Die weniger wertvollen Tongefäße hatten zum Teil wie durch ein Wunder überdauert und reihten sich der Größe nach an der Breitseite auf. Von den verschiedenen Phiolen, die üblicherweise ebenfalls in einer Offizin vorhanden waren, schienen keine mehr übrig. Schutt und Unrat türmten sich auf mehreren Haufen mitten in dem großen Raum.
Im angrenzenden Laboratorium bot sich auf den ersten Blick ein ähnlich trostloses Bild. Doch dann sahen sie, dass vor dem mittleren Fenster zum Hinterhof ein sauberes, breites Brett auf zwei Holzböcken lag. Utensilien wie Mörser, Schalen und Waage standen einladend darauf bereit.
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