Die Wundärztin
auf das regennasse Pflaster zu setzen. Ein heiseres Krächzen entstieg seiner Kehle, bevor er stolzen Schrittes hinter einem halb aus den Angeln gehobenen Tor verschwand. Mangels herumstreunender Katzen und Hunde konnte also schon ein halbgerupfter Gockel so tun, als beherrschte er die Straßen der Stadt. Magdalenas Herz quoll über vor Mitleid.
Das frühere Haus des Stadtmedikus stand längs zum Marktplatz, erst vor sechs Jahren beim letzten großen Einfall der Kaiserlichen war die gegenüberliegende Marienkirche vom Feuer zerstört worden. Trotz der Spuren des Verfalls hatte das Gebäude wenig von seiner einstigen Pracht verloren. Magdalena warf Rupprecht einen fragenden Blick zu. »Weißt du noch? Damals, vor dem großen Brand? Der Junge, der uns hierhergebracht hat, um uns voller Stolz die Apotheke zu zeigen. Hinter seinem Rücken haben wir von den Salben geklaut und sie Meister Johann gebracht. Echte Raritäten waren darunter, sogar die bewährte alte Wundersalbe, auf die er so viel hält. Er hat ganz schön geschaut, als ihm klar war, dass der Stadtmedikus von Königsberg auf dasselbe Geheimrezept schwor wie sein alter Meister. Fünfzig Jahre alte Salben sind wohl weiter verbreitet, als man denkt, vor allem unter alten Apothekern und Feldschern.«
Sie kicherte, als sie sich daran erinnerte. Ihr Gefährte blickte dagegen weiterhin düster zu dem Haus, seiner Mimik nach zu schließen angestrengt damit beschäftigt, sich die von ihr beschriebene Szene ins Gedächtnis zu rufen. Zu viele ähnliche Erlebnisse teilten sie seit frühester Kindheit, durch viele Städte wie diese waren sie gezogen, auch mehrmals, so wie sie in Königsberg nahezu jedes Jahr haltgemacht hatten. Mit der Zeit sahen alle Städte gleich aus, unterschieden sich höchstens in der Größe voneinander. Aber auch das spielte nach Seuchen und Plünderungen kaum mehr eine Rolle. Zerstört waren die meisten, öde und verlassen, weil die Bewohner vor dem Krieg oder der Pest, meist vor beidem gleichermaßen, die Flucht ergriffen hatten.
Magdalena folgte Rupprechts suchendem Blick über die Fassade. Das gemauerte Untergeschoss des Hauses am Marktplatz war noch intakt, die beiden Obergeschosse und der Giebel hingegen waren ausgebrannt. Wo ehedem teure Glasfenster kostbares Tageslicht hereingelassen hatten, gähnten nun dunkle Höhlen. Rußspuren zogen sich über den Putz bis unter das rote Dach hinauf.
»Grausam, so den Verstand zu verlieren wie die arme Frau mit dem Kind. Wie gut, dass wir nicht wissen, was das Schicksal für uns bereithält.« Die Männerstimme ließ sie beide herumfahren. Ein weißhaariger Mann war aus der Eingangstür der Apotheke getreten und gesellte sich nun zu ihnen. Magdalena lächelte ihn an und versetzte Rupprecht einen sanften Stoß in die Rippen, damit er den Fremden ebenfalls grüßte. Er überragte sie beide um einen halben Kopf, wirkte dennoch nicht sonderlich beeindruckend. Der farblose Bart hing ihm struppig auf die Brust, sein Gesicht war nicht weniger ausgebleicht als die Haare. Müde erwiderte er das Lächeln und lud sie ein, ihm in der verfallenen Offizin Gesellschaft zu leisten. »Sonst wäscht euch noch der Regen aus der Stadt«, knurrte er, »und mir bleibt wieder niemand mehr, mit dem ich mich gescheit unterhalten kann.«
»Das ist aber nicht der alte Medikus«, raunte Rupprecht, als er ihr den Vortritt ließ, bevor er die zwei Stufen zur Tür hinaufging.
»Siehst du, du erinnerst dich also doch.« Freudig nickte sie und erklärte gleich eifrig weiter: »Meister Briegel ist in den Wirren des Brandes vor vierzehn Jahren verschwunden. Die vielen Male, die mein Vater und ich seither mit den Versehrten hier entlangkamen, bin ich immer wieder zu diesem Haus und habe versucht, herauszufinden, wo er steckt. Mit Klauen und Krallen hat eine kahlköpfige Frau lange Zeit das Gebäude verteidigt, wohl die Hebamme aus dem Ort, die mit den Tinkturen des alten Briegel etwas anzufangen wusste. Briegels Sohn, der in unserem Alter war, lebt wohl mittlerweile in Nürnberg bei Verwandten, hat sie mir beim letzten Mal erzählt. Dort soll er inzwischen sogar studieren. Der Medikus und seine Frau aber sind weiterhin verschwunden. Jede Spur von ihnen hat sich verloren, auch ihr Sohn weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Schrecklich, nicht?« Es schauderte sie, zu nah ging ihr die Vorstellung, Carlotta könnte in einigen Jahren Ähnliches über ihre verschollenen Eltern berichten.
»Ja, der Brand damals, als wir zum ersten Mal
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