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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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hatte recht. Sie durfte nicht länger zaudern, sondern musste endlich etwas tun. Nach einem letzten Blick auf die Wunde am Unterleib kletterte sie in den angrenzenden Wagen, um das Nötige für die bevorstehende Operation zusammenzusuchen.
    Die Tinkturen und Pflaster hatte sie rasch beieinander, auch die Suche nach Nadeln und dünnem Faden währte nicht lange. Ihr Blick fiel auf eine längliche Lederrolle, die sie noch nie gesehen hatte. Ein bestens sortiertes Wundarztbesteck mitsamt den schönsten Nadeln sowie blankpolierten Skalpellen und Scheren kamen darin zum Vorschein. Gewiss hatte Meister Johann es bei einem Bader im besetzten Amöneburg gefunden. Verzückt strich sie mit den Fingern darüber. Einen solchen Schatz wünschte sie sich auch. Die Klingen waren so scharf, dass sie sich beim Darüberstreichen in den Finger ritzte. Hastig saugte sie das Blut an, bis es aufhörte zu pochen, und packte mit der anderen Hand die Lederrolle. Darunter kamen einige Rollen Garn und ein Lappen, in dem die alten Nadeln steckten, zum Vorschein.
    »Wo bleibst du nur?« Unwirsch schob Meister Johann seinen dicken Schädel unter die Wagenplane. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen, langsam senkte sich der trübe Schleier des Alkohols darüber.
    »Bin schon da!« Sie legte die Utensilien in ihren Rock und raffte ihn an zwei Enden zu einer Art Beutel. Ein letztes Mal wanderte ihr Blick durch den penibel aufgeräumten Wagen. Krüge und Kisten standen wohlgeordnet an der Seite, die Kräuter reihten sich kopfüber an einer Schnur zu fest gebundenen Büscheln. Ratsch! Ein hässliches Geräusch und ein Rucken bedeuteten ihr, dass sie mit ihrem Rock an einem Nagel hängengeblieben war. Sie taumelte, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Dabei entdeckte sie die Ursache ihres Missgeschicks: Ein rostiger Nagel ragte genau in Taillenhöhe aus einer Kiste. Geschickt wand sie sich los. Der Riss im Rock war ärgerlich. Über eine gute Fingerlänge verlief er knapp neben der Seitennaht.
    Sie griff sich einige Streifen sauberes Leinen und hoffte, es würde genügen, um den Patienten nach dem Eingriff zu verbinden. So wie seine Verletzungen ausgesehen hatten, benötigte sie gleich mehrere Lagen. Flink schnappte sie sich zudem einen zweiten Branntweinschlauch. Da Meister Johann dem Alkohol selbst so gern zusprach, schadete der gewiss nicht. Außerdem tupfte sie die Wunden gern damit aus. Aus purem Zufall war sie letztes Jahr nach dem Gefecht in Kirchhain, nicht weit von ihrem jetzigen Standort, darauf gekommen. Damals hatten sie kaum ausreichend Wasser gehabt, um die Wunden auszuwaschen. Deshalb hatte sie begonnen, den Verletzten mit Branntwein getränkte Lappen aufzulegen. Geschadet hatte es niemandem, im Gegenteil. Oft setzte danach sogar eine schnellere Heilung ein, und der gefürchtete Wundbrand blieb sogar ganz aus. Meister Johann hatte ihr Vorgehen gutgeheißen und billigte es auch jetzt, sofern sie genug Branntwein dafür übrig hatten. Das traditionelle Ausbrennen mit siedendem Öl und Glüheisen vermied er schon seit einigen Jahren. Dagegen setzte er auf die neuere Methode und legte ein Digestivum aus Eigelb, Oleum rosatum und Terpentin auf. Ein knapper Blick in ihren Rock bestätigte Magdalena, dass sie auch daran gedacht hatte.
    »Endlich! Lange hält unser Patient nicht mehr durch, und du weißt, was das für uns bedeutet.« Der Meister würdigte sie keines weiteren Blickes, sondern griff gleich nach der Lederrolle. »Zusammenflicken müssen wir den wie einen löchrigen Strumpf. Rupprecht hat draußen schon das Feuer geschürt. Ich bring ihm die Nadeln, und du kümmerst dich darum, dass der Bursche uns in der Zwischenzeit nicht wegstirbt.«
    Magdalena sah ihm nach, wie er in halb gebückter Haltung nach draußen kroch. Sobald sie sicher sein konnte, dass er sich nicht mehr umdrehte, kniete sie sich neben den Patienten und hob das dünne Leintuch auf dem Gesicht an.
    Einen Augenblick war ihr, als stockte ihr Herzschlag. Mühsam schluckte sie, zwang sich weiterzuatmen. Vorsichtig wagte sie, erneut hinzusehen. Sie hatte sich nicht getäuscht: Vor ihr lag Eric! Noch lebte er. Lautlos begann sie zu weinen. Ob vor Freude oder Leid, hätte sie nicht zu sagen vermocht. Schwach keimte die Hoffnung in ihr, Carlotta würde ihren Vater nun also doch noch kennenlernen und Eric endlich von ihrem gemeinsamen Kind erfahren. Gleichzeitig erfasste sie wilde Verzweiflung: In wenigen Tagen würde er am Galgen baumeln.
    Sie beugte sich über ihn,

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