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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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feierte mit jeder einzelnen Furche seines Gesichts ein stummes Wiedersehen und strich behutsam über das rotblonde Haar. Seit ihrem letzten Beisammensein in Freiburg vor zwei Jahren hatte er sich nur wenig verändert. Um Mund und Nase entdeckte sie die wohlbekannten, milden Züge, die im krassen Gegensatz zu seinen markanten Kieferknochen standen. Die beiden Falten oberhalb der Nasenwurzel waren tiefer geworden. Die Sonne hatte die Haut ringsumher gebräunt, so dass die Furchen zwei weiße Linien bildeten. Hell sprossen ihm die Bartstoppeln über Wangen und Kinn. Er hatte sich höchstens ein, zwei Tage nicht rasiert, legte sonst aber offenbar viel Wert auf sein Äußeres. Sein Haupthaar wirkte gepflegt und endete sorgfältig geschnitten in einer geraden Linie im Nacken. Noch einmal strich sie zärtlich darüber, fasste mit den Händen vorsichtig das Kinn. Eine warme Woge brandete durch ihr Inneres.
    Im selben Moment durchzuckte sie ein jäher Schmerz. Wieso dachte sie, er sei noch derselbe, den sie damals in Freiburg geliebt hatte? Hielt Seume ihn nicht für einen heimtückischen Söldnermörder? Prüfend betrachtete sie sein Antlitz. Nein, völlig unmöglich. Alles in ihr sträubte sich zu glauben, die beiden Schurken am Richtplatz hätten einen weiteren Komplizen gehabt. Erst recht schien es ihr unvorstellbar, dass Eric dieser geheimnisvolle Dritte sein sollte. Hinterrücks Rache an jemandem zu nehmen war ganz und gar nicht seine Art.
    »Eric!« Leise rief sie seinen Namen und wartete angespannt auf eine Reaktion. Die entsetzlichen Schmerzen hatten ihm das Bewusstsein geraubt. Sie setzte ihm den Branntweinschlauch an den Mund und kippte ihm die Flüssigkeit hinein. Davon erwachte er, prustete und spuckte. Der Alkohol brannte gewiss auf der wunden Haut und in der trockenen Kehle. Dennoch war es wichtig, dass er viel davon schluckte und in einen Dämmerzustand verfiel. Endlich schien die erhoffte Trübung der Sinne einzutreten. Die Augenlider fielen ihm zu. Einige Male riss er sie noch auf. Es kostete ihn zunehmend Kraft. Er stöhnte. Schließlich blieben die Augen geschlossen, seine Gesichtszüge entspannten sich. Magdalena schob ihm ein Stück Leder zwischen die Zähne. Sanft redete sie auf ihn ein, erzählte ihm unablässig von der kleinen Carlotta, tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. Es beruhigte sie zu sehen, wie Friede in ihm einzukehren schien. Behutsam zog sie ihm das dünne Leintuch wieder über das Gesicht und hoffte, er war kräftig genug, den Eingriff durchzustehen.
    »Ich operiere«, sagte sie, als Meister Johann und Rupprecht ins Zelt zurückkehrten.
    4
    Carlotta fand nicht lange Gefallen daran, wie die Steckenknechte die Delinquenten mit dem Glüheisen malträtierten. Bald stimmte sie ein ähnlich jämmerliches Geschrei an wie die beiden Männer, deren bloße Haut unter dem lauten Beifall der Menge versengt wurde. Elsbeth versuchte, die Kleine durch Hin-und-her-Wiegen zu beruhigen. Zu gern wollte sie dem Spektakel auf dem Richtplatz noch eine Weile zuschauen. Das dichte Gedränge machte es jedoch unmöglich, Carlotta ausgiebig zu schaukeln. Elsbeth spielte mit dem Gedanken, sie mit Hilfe des frisch eroberten Bernsteins zu besänftigen. Mehr als einmal hatte sie heimlich beobachtet, wie Magdalena diesen gutgehüteten Schatz unter dem Mieder hervorgezogen und ihn vor den Augen ihrer Tochter hatte baumeln lassen. Der Anblick des honiggelben Steins mit dem schwarzen Insekt faszinierte die Kleine meist so, dass sie darüber andächtig ruhig wurde. Weil Elsbeth aber eben erst die günstige Gelegenheit genutzt und der Cousine den wertvollen Stein entwendet hatte, wagte sie es nicht. Die Gefahr, dass jemand anderer den Stein entdecken und ihn ihr wieder wegnehmen konnte, war ihr zu groß. Bei einem der Händler würde man gewiss mehrere Speckseiten und einige Laibe Brot dafür eintauschen können. Allein bei dem Gedanken knurrte ihr der Magen. Vielleicht würde sie nachher sogar selbst den Stein für ein ordentliches Essen hergeben. Die Vorstellung, bald schon ein dickes Stück Speck in Händen zu halten, war äußerst verlockend.
    »Hat wohl Hunger, die Kleine, was?« Die braunhaarige Frau neben ihr begann, mit der Zunge zu schnalzen und dicht vor Carlottas Augen Grimassen zu schneiden, um sie bei Laune zu halten.
    »Magst du mit zu mir? Ich habe noch eine kräftige Brühe im Topf.« Der alte Soldat nutzte die Gelegenheit, sich vor Elsbeth in Positur zu schmeißen, und lachte zweideutig über sein

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