Die Wundärztin
ausgiebig nach ihm zu suchen. Zunächst aber machte sie sich daran, im Zelt aufzuräumen. Die Instrumente mussten gesäubert werden, das überschüssige Leinen zusammengelegt und die Töpfe und Tiegel fest verschlossen werden. Zwischendurch sah sie immer wieder zu Eric. Sein Brustkorb hob und senkte sich schwach, aber beständig. Wenn sie ihn so liegen sah, kribbelte es nach wie vor in ihrem Bauch. Widerstandslos seinem weiteren Schicksal zuzusehen, würde sie nicht ertragen. Wie aber sollte sie ihn Seumes Händen entreißen, ohne selbst am Galgen zu enden?
Im orangefarbenen Licht der Spätnachmittagssonne kletterte sie schließlich in den angrenzenden Planwagen. Wie so oft trug sie die Tongefäße im gerafften Rock. Bei jeder Bewegung klirrten sie gegeneinander. Sie mahnte sich zu mehr Bedächtigkeit. Die Kräuter und Pasten waren kostbarer denn je. Seit Tagen war sie nicht vor dem Lager gewesen, um für Nachschub zu sorgen. Auch konnten sie derzeit bei keinem Marketender neue erwerben. Nach dem Abzug der Schweden waren die Kaiserlichen von sämtlichen Nachschublieferungen abgeschnitten. Umsichtig räumte sie die Utensilien an ihren Platz zurück. Dabei suchte sie gründlich zwischen den Tiegeln und Kisten nach dem verlorenen Bernstein. Jede Ritze zwischen den Holzlatten war ihr vertraut, jedes Wurmloch wusste sie blindlings mit den schlanken Fingern zu ertasten. Trotzdem wurde sie auch dieses Mal nicht fündig. Wo sonst als im Gewühl des Planwagens mochte der kostbare Schatz verlorengegangen sein? Deutlich stand ihr vor Augen, wie sie bei der Zusammenstellung der Hilfsmittel für Erics Operation mit dem Rock an einem rostigen Nagel hängengeblieben war. Dabei musste die Lederschnur mit dem Stein gerissen sein. Auf dem Richtplatz hatte sie das Schmuckstück noch gehabt. Carlotta hatte sich immer so gern an der Schnur festgekrallt, so auch an jenem Morgen. Ob dabei die Schnur gerissen war? Wenn der Stein im Gewühl des Richtplatzes verschwunden war, würde sie ihn wohl niemals wiederfinden. Verzweifelt wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Um sich Luft zu verschaffen, knotete sie das Kopftuch auf und schüttelte die roten Locken, bis sie locker auf die Schulter fielen. Die Hitze war kaum auszuhalten. Mieder und Rock klebten schon wieder feucht auf der Haut. Sie rief sich zur Besinnung. Was stand sie untätig herum und grübelte über den Stein? Eric galt es zu retten! Das war das Wichtigste. Rasch kehrte sie zurück ins Zelt.
Eric hatte sich noch immer nicht gerührt. Einzig das Auf und Ab seines Brustkorbs deutete darauf hin, dass er lebte. Eine Zeitlang beobachtete sie seinen Atem, fühlte den schwachen Puls. Es konnte Tage dauern, bis sich sein Zustand spürbar veränderte. Würde sich Seume mit der Hinrichtung wirklich so lange gedulden? Nachdenklich knöpfte sie ihr Mieder wieder zu, strich den Rock glatt und trat vor das Zelt.
Wolkenfetzen verschleierten nun den Himmel, eine sanfte Brise strich über das Lager und spielte sanft mit den Stoffbahnen der Zelte und Wagen. Anders als am Nachmittag war kaum jemand in den Gassen zu sehen. Leise Flötenmusik tönte herüber, kurz darauf setzten Singen und Klatschen ein. Offensichtlich hatte der alte Josef beim Zelt von Hannas Schwester sein Flötenspiel begonnen. Magdalenas Blick glitt über die weite Ebene Richtung Westen. In großen Kreisen zogen zwei Krähen ihre Bahnen. Als führten sie eine rege Unterhaltung, krächzten sie abwechselnd auf. Grillen zirpten, eine dicke Hummel verirrte sich brummend in Magdalenas rotem Haar. Energisch schüttelte sie den Kopf, und die Hummel schwirrte davon. Magdalena wandte sich wieder dem Brachland zu. Der karge Lehmboden schimmerte gelblich. Der Himmel darüber wurde zunehmend grau. In der Ferne grollte es dumpf. Zaghaft regte sich Hoffnung auf ein Gewitter. Regen wäre ein wunderbares Geschenk. Das Licht wurde milchiger, die Wolken ballten sich zusammen. Flogen die Schwalben nicht schon bedeutend niedriger? Da durchschnitt ein einsamer Schuss die träge Sommerstimmung, und ein schwarzes Etwas stürzte vom Himmel. Wieder einmal hatte sich jemand aus der Luft einen Braten besorgt.
Ein Geräusch aus dem Zelt schreckte Magdalena auf. Beunruhigt spähte sie hinein. Es dauerte, bis sie sich wieder an die trüben Lichtverhältnisse gewöhnt hatte. Eric schien sich bewegt zu haben. Der Wasserkrug, der neben ihm gestanden hatte, war umgekippt und hatte sich über den festgestampften Lehmboden ergossen.
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