Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
abzubringen. Deshalb gingen auch die Krankenschwester und die andern Frauen ganz von selbst hinter ihr her, um zu sehen, ob sie wirklich den Mut hätte, in die Villa hineinzugehen.
Das Gänsemädchen Åsa ging in der Mitte der Straße, und während sie so dahin wanderte, hatte sie etwas an sich, daß sich die Leute unwillkürlich nach ihr umschauten. Sie schritt so ernst und würdig einher wie ein junges Mädchen, das am Konfirmationstag zum Altar schreitet. Sie hatte sich ein großes schwarzseidenes Tuch, ein Erbstück von ihrer Mutter, um den Kopf geschlungen, in der Hand trug sie ein zusammengefaltetes Taschentuch und in der anderen ein Körbchen Spielsachen, die Klein-Mats verfertigt hatte.
Als die am Wege spielenden kleinen Kinder Åsa so daherkommen sahen, liefen sie auf sie zu und riefen: „Wohin gehst du, Åsa? Wohin gehst du?“
Aber Åsa gab keine Antwort; sie hatte die Frage nicht einmal gehört und ging ruhig weiter. Als aber die Kinder immer wieder fragten und Åsa an den Kleidern zogen, hielten die hinterherkommenden Weiber die Kinder zurück und geboten ihnen Schweigen. „Laßt sie gehen,“ sagten sie. „Sie geht zum Inspektor, ihn zu bitten, daß sie ihrem Bruder, Klein-Mats, ein großes Begräbnis halten darf.“
Da wurden auch die Kinder von Erstaunen überwältigt, weil Åsa sich auf etwas so Kühnes einlassen wollte, und eine kleine Schar Kinder lief mit, zu sehen, wie das ablaufen würde.
Dies alles trug sich etwa um sechs Uhr nachmittags zu, als eben die Arbeiter in den Gruben Schicht machten; und als Åsa eine Strecke weit gegangen war, kamen mehrere hundert Arbeiter mit langen, hastigen Schritten des Weges daher. Für gewöhnlich sahen sie, wenn sie von der Arbeit kamen, weder rechts noch links, aber als sie Åsa begegneten, merkten einige gleich, daß das Kind etwas Ungewöhnliches vorhatte, und fragten es, was geschehen sei. Åsa sagte kein Wort, aber die Kinder schrieen laut durcheinander, wohin sie wollte. Da dachten einige der Arbeiter, das sei doch ein sehr mutiges Unterfangen von einem Kinde, und sie gingen auch mit, zu sehen, wie es ihr dabei ginge.
Åsa ging in das Kontorgebäude hinein, wo der Inspektor um diese Zeit gewöhnlich bei seiner Arbeit saß. Als sie in den Flur trat, ging die Tür auf, und der Inspektor stand vor ihr; er hatte den Hut auf und den Stock in der Hand und war auf dem Wege nach seiner Wohnung, um zu Mittag zu essen.
„Wen möchtest du sprechen?“ fragte er, als er das kleine Mädchen sah,das mit einem schwarzseidenen Tuch um den Kopf und einem zusammengefalteten Taschentuch in der Hand so feierlich daherkam.
„Ich möchte gern mit dem Herrn Inspektor selbst sprechen,“ antwortete Åsa.
„Ach so! Nun dann komm herein!“ sagte der Inspektor und trat wieder ins Kontor. Er ließ die Tür hinter sich offen, denn er dachte natürlich, das kleine Mädchen würde ihn nicht lange aufhalten. So kam es, daß die Personen, die hinter Åsa hergekommen waren und nun im Flur und auf der Treppe standen, hörten, was im Kontor vorging.
Nachdem das Gänsemädchen Åsa eingetreten war, richtete sie sich zuerst auf, schob das seidene Tuch zurück und heftete ihre runden Kinderaugen, die einen so ernsten Blick hatten, daß es einem ins Herz schnitt, ruhig auf das Gesicht des Inspektors. „Klein-Mats ist ja nun tot,“ begann sie, und dabei zitterte ihre Stimme, daß sie einen Augenblick nicht weiter sprechen konnte.
Jetzt wußte der Inspektor, wen er vor sich hatte. „Ach so, du bist also das kleine Mädchen, das das große Begräbnis halten will,“ sagte er freundlich. „Das mußt du aber lassen, Kind. Es wird zu teuer für dich. Wenn ich nur früher etwas davon gewußt hätte, dann würde ich es gleich verhindert haben.“
Es zuckte in dem Gesicht des kleinen Mädchens, und der Inspektor glaubte, sie würde in Tränen ausbrechen. Statt dessen aber sagte sie: „Darf ich dem Herrn Inspektor nicht ein wenig von Klein-Mats erzählen?“
„Ich habe eure Geschichte schon gehört,“ erwiderte der Inspektor in seiner gewöhnlichen ruhigen, freundlichen Weise. „Du tust mir von Herzen leid, das darfst du mir glauben. Ich will gewiß nur dein Bestes.“
Da richtete sich das Gänsemädchen Åsa noch höher auf, und sie begann mit lauter, klarer Stimme: „Von seinem neunten Jahre an hat Klein-Mats weder Vater noch Mutter mehr gehabt, und von da an hat er ganz für sich selbst sorgen müssen wie ein erwachsener Mann. Er ist sich stets zu gut zum Betteln
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