Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
man klein ist, erzählt einem niemand, wie schwer das Leben sein kann, wenn man erst mal groß ist. Niemand klärt einen darüber auf, dass Freundschaften plötzlich nicht mehr einfach und unkompliziert sind, Entscheidungen auf einmal viel mehr Bedeutung haben und die Freuden der Kindheit mit einem Schlag vorbei sind. Stattdessen fragen sie einen, was man denn mal werden will, wenn man groß ist. Als ob dies alles wäre, was das Erwachsenenleben an Komplikationen bereithalten würde. Eigentlich muss man sich als Kind nur über diese eine Frage Gedanken machen und sich mit einer Antwort wappnen. Und wenn man sich etwas Vernünftiges überlegt hat, ist auch alles gut – wenn man also beispielsweise sagt, dass man Kinderärztin oder Gehirnchirurg werden will. Aber wenn man stattdessen antwortet – so wie ich –, dass man Tinkerbell werden wolle, lächeln sie einen gutmütig an und tätscheln einem den Kopf … und man ahnt, dass sie sich noch Jahre später auf ihren furchtbar erwachsenen Dinnerpartys darüber amüsieren werden. Die Welt der Erwachsenen scheint einem trotzdem ein unwiderstehlich romantischer Ort zu sein – einer, der in weiter Ferne liegt, doch an dem man so gern wäre, dass man alles dafür täte, um endlich dorthin zu gelangen. Na ja, fast alles.
Nun, da ich selbst dem illustren Kreis der Erwachsenen angehöre, wünsche ich mir erschreckend oft, wieder fünf Jahre alt zu sein. Alle Entscheidungen waren so einfach (Johannisbeer- oder Orangenbrause?), und ich wusste immer ganz genau, was ich wollte (Johannisbeere!). Ich weiß noch, wie toll ich es gefunden hätte, Lolliverkäuferin wie unsere
Nachbarin Mrs Pearson zu sein (Plan B, falls aus meinen Ambitionen, eine kleine Elfe zu werden, doch nichts werden sollte). Tatsächlich hatte ich mit fünf Jahren meinen Bruder einen ganzen Sommer lang dazu genötigt, Auto zu spielen (kein Scherz), damit ich ihn anhalten und ihm meine selbst gemachten Lollis verkaufen konnte. Wenn man ein Kind ist, können so einfache Dinge wie ein Himbeerbonbon darüber entscheiden, wessen Freundin man ist. Freundschaften waren so einfach : Wenn du heute den ganzen Tag kein einziges Wort mit ihr sprichst, darfst du meine Freundin sein – aber wehe du sprichst mit ihr, dann bin ich nämlich nicht mehr deine Freundin. Andererseits unterscheidet sich das gar nicht so sehr davon, wie manche Erwachsene sich benehmen. Viele Erwachsene sind vielleicht einfach nur große Kinder, die sich wie Erwachsene anziehen. Insbesondere in einer Stadt wie New York.
Wie ich bald erfahren sollte.
Um halb eins verließ ich den Laden und winkte mir ein Taxi heran, um zur New York Times zu fahren. Schlimmer als der Tag begonnen hatte, konnte er eigentlich kaum noch werden. Dass ich Ed um ein Haar meine Vergangenheit offenbart hätte, brachte mich noch immer etwas aus der Fassung. Als ich im Taxi saß, kamen mir Zweifel, ob ich wohl jemals eine zweite Chance bekäme, es ihm zu sagen. Noch immer wurde mir ganz anders, wenn ich an unseren Streit dachte. Wir hatten uns zwar wieder versöhnt, aber genügte das?
»Alles okay, Lady?«, fragte der Taxifahrer, ein sanft lächelnder Asiate, und musterte mich besorgt im Rückspiegel.
Ich rang mir ein Lächeln ab. »Alles in Ordnung, danke. Bei Ihnen auch?«
In New York kann dies eine verhängnisvolle Frage sein. Normalerweise bekommt man auf diese bloße Nettigkeit nämlich eine mehr oder minder unterhaltsame Mischung aus allgemeinen Klagen und spezifischen Wutausbrüchen zu hören, die von den Mietpreisen und desaströsen Staatsfinanzen bis zu Mutmaßungen über den Geisteszustand des Fahrers vor ihm reichen konnten. Deshalb frage ich meistens gar nicht erst. Aber in meinen Gedanken herrschte ein solches Durcheinander, dass ich für jede Ablenkung dankbar war.
Glücklicherweise wollte Ken, mein freundlicher Fahrer, heute nicht über Gott und die Welt jammern, sondern nur über seine kleine Tochter reden. Er holte ein schon ziemlich abgegriffenes Foto hinter der Sonnenblende hervor und reichte es mir über die Schulter nach hinten. Zu sehen war eine lächelnde Frau, die ein winzig kleines, ebenfalls lächelndes Baby im Arm hielt.
»Wie heißt sie?«, fragte ich.
»Sunshine.« Ken strahlte über das ganze Gesicht. »Sunshine Wang. Wir nennen sie Sunny. Morgen wird sie fünf Wochen alt – unser kleiner Sonnenschein. Meine Frau ist mächtig stolz auf sie. Sie ist sowieso ganz begeistert davon, Mutter zu sein. Können Sie sich das vorstellen? Sie hat
Weitere Kostenlose Bücher