Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
ihren tollen Job an der Wall Street gekündigt, weil sie sich ganz um Sunny kümmern will. Ich fahre jetzt immer zwei Schichten, damit sie zu Hause bleiben kann.«
»Das ist bestimmt nicht einfach für Sie«, meinte ich verständnisvoll und gab ihm sein kostbares Foto zurück.
»Ach, geht schon«, erwiderte er, nahm mir das Foto von Sunny ab und schob es zurück hinter die Sonnenblende. »Ich stelle mir einfach vor, dass ich meinem kleinen Mädchen New York zeige, wenn ich hier den ganzen Tag rumfahre.«
Ich musste lächeln und ließ mich in meinen Sitz zurücksinken, um New York an mir vorbeirauschen zu lassen.
Häuser, Menschen und Verkehr verschwammen vor meinen Augen zu einem bunten Einerlei, während ich meine aufgewühlten Gedanken in der Anonymität des gelben Taxis treiben und mich durch die Stadt tragen ließ, die ich so sehr liebte. Ich war entsetzlich müde. So erschöpft hatte ich mich seit langem nicht mehr gefühlt. Aber da war noch etwas anderes, etwas Neues. Tief in mir spürte ich eine kaum merkliche Veränderung vor sich gehen – nahezu unmerklich, wie der Übergang vom Spätsommer zum Herbst, aber unverkennbar der Vorbote einer neuen Zeit. Der Traum letzte Nacht hatte so viele verborgene Erinnerungen an die Oberfläche treiben lassen – Erinnerungen, denen ich mich jetzt genauso wenig gewachsen fühlte wie vor sechs Jahren … Nur dass diesmal noch viel mehr auf dem Spiel zu stehen schien.
Um ein Geheimnis zu bewahren, braucht es mehr, als dass man es nur nicht jemand anderem erzählt. Es beansprucht einen ganz und gar – es beherrscht das Bewusstsein, den Körper, jeden Gedanken und jedes unausgesprochene Gefühl. Aber selbst wenn man meint, alles unter Kontrolle und Verschluss zu haben, kostet es immer noch weiter Kraft. Man hat eine mentale Checkliste, die in jeder neuen Situation abgearbeitet werden muss: Gesprächsthemen, die es unter allen Umständen zu vermeiden gilt, beiläufige Bemerkungen, die mehr über einen preisgeben als beabsichtigt, und – ganz wichtiger Punkt – Menschen, denen man nicht zu nahekommen sollte, weil bei ihnen die Gefahr besonders groß ist, dass man sich sein wohlgehütetes Geheimnis entlocken lässt.
Ich gab es nur ungern zu, aber Ed hatte den Nagel vorhin ziemlich genau auf den Kopf getroffen.
Mir kommt es manchmal so vor, als gäbe es noch eine ganz andere Seite an dir, von der wir überhaupt nichts wissen.
Es gab einen guten Grund, warum ich mein Geheimnis
so gut bewahrte: Wenn ich niemanden nah genug an mich heranließ, würde auch niemand je erfahren, warum ich nach Amerika gekommen und letztlich Zuflucht inmitten von Mr Kowalskis friedfertigen Blumen gesucht hatte. Es gab nur einen einzigen Menschen in New York, der wusste, wovor ich weggelaufen war und was ich versteckte: Celia. Und nicht einmal sie wusste alles.
Das Taxi fuhr so scharf in eine Kurve, als versuchte es, meinen hin und her springenden Gedanken zu folgen. Aber es ist sechs Jahre her , warf mein Gewissen schüchtern ein, wobei es sich der Ungeheuerlichkeit dieses Einwands bewusst war. Vielleicht wollte der Traum letzte Nacht dir ja sagen, dass es an der Zeit ist, die Vergangenheit endlich loszulassen? Mir stockte der Atem, als mir diese Möglichkeit so grell vor Augen flimmerte wie das gleißende Sonnenlicht, das sich auf dem Dach eines vorbeifahrenden Taxis spiegelte. Wie lange durfte, sollte man sich an so etwas festklammern? Und was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn andere davon wüssten? Würden Ed und Marnie ihre Meinung von mir ändern, wenn sie davon wussten? Mein Herz begann schneller zu schlagen, und meine Wangen glühten, als ich mögliche Schreckensszenarien in Gedanken durchspielte wie ein Daumenkino.
Erst als das Taxi langsamer fuhr und wir das Redaktionsgebäude der New York Times fast erreicht hatten, verbannte ich meinen inneren Widerstreit in die Tiefen meines Bewusstseins und zwang meine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück, während ich in meiner Handtasche nach dem Geld suchte.
Celia erwartete mich am Haupteingang. Gereizt schaute sie auf die Uhr und bedachte mich mit einem vorwurfsvollen Blick, als mein Taxi am Straßenrand hielt. Ich gab Ken ein paar Scheine mehr, als er eigentlich verlangt hatte.
»Ein kleines Trinkgeld für Ihr kleines Mädchen«, meinte ich, als ich seine verdutzte Miene sah. Ich stieg aus, und der freudestrahlende Vater fuhr davon.
Celia packte mich ungeduldig beim Arm und zerrte mich ins Gebäude. Ehe ich wusste,
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