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Die Wunderheilerin

Die Wunderheilerin

Titel: Die Wunderheilerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Thorn
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doch der Zahnreißer hatte sich davon nicht stören lassen. Am Ende hatte er den Schmerzverursacher stolz in die Höhe gehalten, und die Umstehenden hatten ihm applaudiert. Dann hatte er dem Gesellen einen Klaps auf die Schulter gegeben und ihn von seinem Schemel hochgescheucht. Der Geselle war taumelnd davongeschlichen, doch das breite Grinsen auf seinem Gesicht zeigte, dass der Zahnreißer seine Arbeit zur Zufriedenheit ausgeführt hatte.
    Neben dem Zahnreißer saßen ein Starstecher, ein Feldarzt in abgetragener Feldkluft, sowie zwei Steinschneider, die miteinander schwatzten. Das Getuschel der Hörer ließ den Saal wie einen Topf mit brodelnder Suppe wirken. Manch einer lachte, andere sahen die seltsamen Gäste mit einer Mischung aus Belustigung und Empörung an.
    Ganz hinten aber, in der allerletzten Reihe und dem Ausgang am nächsten, da entdeckte Priska den Henker, ihren Vater.
    «Was   … wie   … woher   … kommen all die Leute, die nicht an der Universität studieren?», fragte Priska. Sie stand neben Adam hinter einem Vorhang, der das Podium von dem Zuhörerraum abschirmte.
    «Ich habe sie eingeladen. Jeden Einzelnen.»
    «Du hast was? Adam, das darfst du nicht. Die Universität ist nur für die, die dort studieren.»
    «Wer sagt das? Wissen ist für alle da. Sollte für alle da sein. Auch das muss die neue Zeit bringen: Wissen für jeden, der es erwerben will.»
    «Aber all die Bader und Steinschneider und sogarder Henker, Adam! Das werden die Professoren nicht dulden.»
    «Das ist mir gleich. Ich bin einer der Stadtärzte. Ich habe es auszubaden, wenn ein Bader, Zahnreißer oder Bruchchirurg Fehler macht. Sie arbeiten mit Menschen, am menschlichen Körper. Sie müssen darüber Bescheid wissen, dann machen sie weniger Fehler, verursachen weniger Schmerzen.»
    «Und der Henker?»
    «Auch er hat mit Menschen zu tun.»
    Priska seufzte. Sie wusste, dass es Ärger geben würde. Sie konnte es an den Gesichtern der Studenten, die abfällig auf die anderen Gäste blickten, ablesen. «Sag die Leichenöffnung ab, Adam. Noch ist es nicht zu spät», bat sie.
    «Ich denke gar nicht daran», erwiderte Adam. «Mein Wissen steht jedem zur Verfügung.»
    Mit diesen Worten schob er den Vorhang zur Seite und fuhr den hölzernen Tisch auf Rädern hinaus auf das Podium. Beim Anblick des Tuchs, unter dem sich der Leichnam verbarg, verstummten die Hörer im Saal.
    «Heute», hub Adam an zu sprechen, «habe ich euch zu einer Vorlesung gebeten, wie es sie in diesen heiligen Hallen noch nicht gegeben hat. Doch bevor ich mit der Leichenöffnung beginne, lasst mich noch ein Wort zur Wissenschaft sagen. Schon das Wort sagt, worum es dabei geht: um Wissen zu schaffen. Wissen, das dem Menschen nützt.»
    Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern, verharrte kurz bei den Professoren, von denen mehr als einer die Kleidung des Augustiner-Chorherrenstiftes trug, dann sprach er weiter. «Wissen, das dem Menschen zugute kommt, ist von Gott gewollt, von Gott gesegnet. Wissen istAllgemeingut. Für jeden da, der es sucht. Deshalb habe ich heute alle die Wissenshungrigen eingeladen, die sich Tag für Tag mit dem menschlichen Körper und seinen Gebrechen beschäftigen. Auch sie sollen in das Geheimnis der göttlichen Schöpfung eingeweiht werden, welches sich uns Sterblichen nur langsam und in kleinen Schritten offenbart.»
    Er machte wieder eine Pause. Die Studenten hatten die Köpfe eingezogen und sahen furchtsam und erwartungsvoll zugleich zu ihren Professoren. Die Magister tuschelten miteinander, der Probst des Chorherrenstiftes sprach erregt auf den Dekan der Universität ein. Zwei der Stadtärzte schüttelten die Köpfe, einer hatte sich bequem zurückgelehnt, als erwarte er ein Schauspiel. Der älteste Stadtarzt aber, der sehr zurückgezogen lebte, nickte Adam aufmunternd zu.
    «Ihr verletzt die Würde des Toten!», rief plötzlich ein Student. Er war von seinem Sitz aufgesprungen und fuchtelte wild mit den Armen herum. «Es geht nicht an, dass Hinz und Kunz zusehen dürfen, wie Ihr den Körper der Leiche öffnet.»
    Der Saal brodelte. Adam machte eine weit ausholende Handbewegung und musste schreien, um sich verständlich zu machen: «Wenn ich es nicht tue, wenn ich diese Leiche nicht öffne, dann verletze ich die Würde der Menschen. Und zwar der Menschen, die elend liegen und leiden. Menschen, die sich vor Schmerz krümmen. Ich möchte ihnen ihre Würde erhalten oder wiedergeben. Um die Lebenden zu retten, brauche ich die Hilfe

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