Die Wunderheilerin
hob sogar drohend die Faust. «Nicht die Kirche vergibt Eure Schuld. Gott allein kann dies bewirken.»
Bei diesen Worten schüttelten einige der Zuhörer den Kopf, Priska sah es genau. Und als der dickliche Mönch dann noch hinzufügte: «Ihr selbst seid es, die über Eure Schuld entscheidet. Die Sünde liegt in Eurer Hand», spuckte sogar ein alter Mann auf den Boden der Kirche.
Danach, draußen auf dem Vorplatz von St. Nikolai, standen die Gläubigen in Grüppchen beieinander.
«Der Wittenberger tut gerade, als wären wir für alles allein verantwortlich», wetterte eine Schankwirtin. «Dabei weiß doch jeder, dass es Dämonen gibt, Boten des Teufels, die sich einer Seele annehmen, ganz gleich, ob man will oder nicht.»
Eine andere Frau beschwerte sich: «Ablässe haben schon immer geholfen. Was soll der Mensch sonst tun, um sich zu entschulden? Nein, nein, ich glaube diesem Dr. Luther nicht. Ich kaufe weiter Ablässe, um meine Seele und die meiner Lieben aus dem Fegefeuer zu retten.»
Johann von Schleußig stand neben Priska und Eva. «Die Menschen wollen einfach nicht für sich selbst verantwortlich sein», sagte er und schüttelte den Kopf. «Deshalb haben die Beutelschneider der Kirche so große Macht. Es istauch leicht, Schuld auf sich zu laden und dann ein paar Dukaten zu geben, damit alles wieder gut ist. Reue aber ist das nicht.»
«Wollt Ihr damit sagen, dass die Ablässe die Menschen von aufrichtiger Reue abhalten?», fragte Eva.
Johann von Schleußig nickte langsam. «Es ist zu einfach und zu ungerecht. Die Armen, die die Ablässe nicht bezahlen können, sind nicht sündiger als die Reichen. Gottes Gerechtigkeit kann nicht so aussehen, dass die Reichen, die ihr Geld auf dem Rücken der Armen verdient haben, auch noch im Himmel belohnt werden, während die Armen sogar nach dem Tod noch in der Hölle schmoren müssen.»
Adam griff Johann von Schleußig am Arm. «Redet nicht so laut, Priester. Ihr wisst ja, seit dem Papstdekret hat die Dämonenjagd neue Ausmaße angenommen.»
Der Priester nickte und schwieg. Sein Blick, mit dem er die plaudernden Schäfchen seiner Gemeinde bedachte, war mutlos.
«Wie geht es dem Fremden?», wandte sich Adam an Eva.
«Gut, soweit ich das beurteilen kann. Er isst mit gesundem Appetit, er hat gut geschlafen und berichtet, die Schmerzen wären weniger geworden.»
Eva zupfte Priska am Arm. «Und nun lasst uns gehen. Das Mittagsmahl ist bestimmt schon fertig.»
Doch Priska reagierte nicht. Sie hatte ihre Schwester Regina mit ihrem Mann Dietmar gesehen. Priska hob die Hand zum Gruß, öffnete den Mund für ein Wort, doch Regina sah sie nur kurz aus zusammengekniffenen Augen an, warf dann den Kopf in den Nacken und ging ohne Wortund ohne Gruß an ihrer Schwester vorbei, als wäre sie eine Fremde.
Hilflos sah Priska ihr hinterher.
«Hattet Ihr Streit?», fragte Johann von Schleußig. «Ihr wisst, dass es für Euch besser ist, Gerede zu vermeiden.»
Adam nickte. «Ja, das wissen wir. Und wir tun unser Bestes, aber es ist nicht einfach mit Regina.»
Er nickte seiner Frau aufmunternd zu.
Eva rief nach Aurel, dann gingen die vier Erwachsenen langsam über den Markt zurück in die Hainstraße.
Der Tisch in der Wohnstube war für vier Personen gedeckt.
«Und Aron?», fragte Priska. «Ist er nicht Euer Gast?»
Sie blickte Eva anklagend an.
«Johann meinte …», setzte Eva an, doch der Priester unterbrach sie: «Es ist den Juden nicht gestattet, Tischnachbarn der Christen zu sein. Eva wollte Aron Salomon nicht in Verlegenheit bringen.»
Priska war enttäuscht. Sie hatte sich so darauf gefreut, Aron zu sehen. Nur ansehen wollte sie ihn, sich davon überzeugen, dass alles mit ihm in Ordnung war. Jeden Tag hatte sie bisher einen Grund gefunden, zu Eva zu gehen. «Ich bringe Salbe für die Wunden», «Ich habe einen Breiumschlag gemacht», «Ich wollte fragen, ob du etwas für den Kranken brauchst».
Und so hatten sie ihn jeden Tag gesehen. Sie kannte sein Gesicht auswendig: den Blick seiner braunen Augen, in denen gelbe Punkte tanzten, die lange, gerade Nase, die dunklen Brauen, das dunkelbraune Haar, die für einen Mann recht sinnlichen Lippen, die sich immer kräuselten, wenn Aron Priska sah.
Einmal hatte er seine Hand nach ihr ausgestreckt. Und sie hatte ihre in seine gelegt. Dann hatte er seine Hand an sein Herz geführt. Dabei hatte er sie angesehen mit einem Blick, der voller Trauer und Fröhlichkeit zugleich war. Aron. Wie oft hatte Priska in der Nacht
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