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Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)

Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)

Titel: Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Dokument. Entschuldige, wenn das alles sehr fragmentarisch wird, da ich so was vorher noch nie gemacht habe. Zugegeben, eigentlich habe ich gar keine Ahnung, wie sich das alles entwickeln wird. Ich will einfach meine Gedanken niederschreiben. So, als würden wir miteinander telefonieren, was wir ja noch nie getan haben. Wie gesagt, der Anfang von etwas ist immer mühsam … aber es ist ein Anfang …
    Der Zug fährt los. Penn Station verschwindet. Die letzten Schnappschüsse von NY: der Hudson River, grau und träge, zur Linken Hoboken, zur Rechten Union City. Hinter all dem Stein geht die Sonne träge auf. Die Schatten sind lang. Im Comicformat würde das bedeuten: lange Panels mit noch längeren Schatten, die sich über die ganze Seite ziehen.
    Um die Nacht kurz zusammenzufassen, und ich bezweifle, dass es bei dir anders war: zwei Stunden Schlaf, angefüllt mit Träumen, an die ich mich nicht erinnern kann. Viele davon nur Bilder. Ja, so ist das bei mir, ich träume in Bildern. Nein, nicht in Comicstrips. Das wäre doch ein wenig zu klischeehaft. Höre gerade Mick Flannery: »No way to live«. Habe mir das neue Album Red to Blue nach unseren Mails runtergeladen. Passt zum Aufbruch nach Chicago. Von dir habe ich leider keine Musik gefunden.
    Habe hastig die Reisetasche gepackt, wahllos Klamotten hineingestopft und vermutlich, wie immer, wieder mal das meiste vergessen. Wie das Skizzenbuch in deinem Buchladen. Okay, es ist nicht DEIN Buchladen, aber irgendwie ist er das schon, für mich jedenfalls. Klingt verwirrt? Denke, ich bin sehr müde. So müde, dass alles, was ich von mir gebe, sich irgendwie seltsam anhört. Aber ich habe mir vorgenommen, das alles hier spontan zu schreiben und nichts davon zu korrigieren. Die letzten beiden Stunden waren wirklich sehr, sehr hektisch, und jetzt sitze ich im Abteil und spüre das Schaukeln des Zugs und werde gleich schlafen.
    Ein letzter Blick auf die Welt, die draußen vorbeifliegt, schneller und immer schneller …
    Aufgewacht. Die Uhr auf dem Netbook sagt mir, ich habe eine Dreiviertelstunde geschlafen. Frage mich, wo ich hier eigentlich bin. Die Antwort lautet: allein in einem Viewliner Roomette . Habe beide Plätze reserviert, weil ich in Chicago noch einen Termin für SunMind – so nennen wir Sunset & Mindstorm – wahrnehmen muss, und die haben die Reise bezahlt. Muss ein paar Leute von GM treffen wegen dieser Chrysler-Kampagne. Wie auch immer, es ist ganz angenehm und ruhig hier im Zug. Zwei Betten, obwohl ich natürlich nur eines davon benötige, ein eigenes kleines Bad, die Mahlzeiten werden gebracht. Ich kann die Fahrt also richtig genießen. Genau davon habe ich geträumt. Das ist der Grund, weshalb ich den Zug genommen habe. Die schöne und legendäre 49 Lake Shore Ltd., NY Penn bis Chicago Union, Fahrtzeit: knapp neunzehn Stunden. Wenn ich die Augen schließe, ist das Rattern des Zuges wie der Takt zum Soundtrack eines Comics …
    Weißt du, dass man selten richtige Ruhe findet? Eigentlich hasse ich es, andauernd verfügbar zu sein. Wenn es einen Fluch gibt, dem gegenwärtig kaum einer entfliehen kann, dann ist es wohl dieser. Genau deshalb ziehe ich diese neunzehnstündige Zugfahrt einem knapp zweistündigen Flug vor. Die Ruhe des Abteils ist wunderbar, ein Geschenk. Nichts stört einen. Ich habe etwas zum Lesen dabei – die Septemberausgabe des Rolling-Stone -Magazins und Truman Capotes Roman –, genügend Musik auf dem Walkman – ich hasse Apple – und …
    Na ja, ich wollte den Kopf frei bekommen, doch jetzt bin ich nur müde.
    GÄHN!
    Hey, das ist Comic!
    Habe eine ganze Stunde geschlafen; verpennt, einfach so. Unglaublich, wie schnell die Zeit verfliegt. Der Zug hält gerade in Albany, Central Station, und ich beobachte die Leute draußen auf dem Bahnsteig. Ist dir jemals aufgefallen, dass viele Menschen, die man auf dem Bahnhof sieht, heimatlos aussehen? Verlassen, ohne Ziel? Okay, es gibt auch viele, die gern zu reisen scheinen, andere aber haben diesen eigentümlichen Ausdruck auf ihrem Gesicht. Da ist eine Leere, die sie mit etwas zu füllen gedenken. Vielleicht damit, dass sie auf Reisen gehen. Wie Holly Golightly. Deshalb auch gerade dieses Buch. Holly ist ein heimatloser Mensch. Das ist das zentrale Motiv der Geschichte. Es ist kein Liebesroman. Es geht darum, heimatlos zu sein und ein Zuhause zu suchen.
    WOOSH!
    Wieder Comic. Wo kam dieser Gedanke auf einmal her?
    Ach ja, der Bahnsteig. Gleich dazu die Frage: Bin ich ebenfalls heimatlos?

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