Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
starrte den Laptop an, der neben dem Weinglas stand. »Du bist schuld.« Natürlich meinte sie nicht den Laptop. »Du blöder Idiot.«
Die Wut des letzten Abends war sofort wieder da. Sie fühlte sich so schrecklich, weil sie getrunken hatte, und sie hatte zu viel getrunken, weil sie Alex über den Weg gelaufen war. Folglich trug niemand anders die Schuld an ihrem Zustand als Alex Hobdon. Nach und nach kam die Erinnerung zurück. Die Mails, das vereinbarte Treffen am Abend.
9 pm.
Im Sugar & Cinnamon.
Oh, Mann, wohin sollte das alles nur führen?
»Hallo, Tag«, stöhnte sie und wusste schon jetzt, dass sie leiden würde. Es war einer jener Tage, von denen man schon nach dem ersten Aufwachen weiß, dass sie schrecklich werden.
Sie döste noch ein wenig in den anbrechenden Tag hinein und lauschte dem Regen. Schließlich schaute sie auf die Uhr.
»Raus mit dir«, sagte sie zu sich selbst. Es war schon ziemlich spät. Aber wenn sie sich beeilte, würde sie pünktlich bei Mica im Laden sein.
»Komm schon, lass dich nicht so hängen.« Sie rappelte sich mühsam auf und wankte langsam, sehr langsam, durch die Wohnung, die im Licht des Regens, der über die Fenster rann, kälter wirkte, als sie es eigentlich war. Faye schlüpfte auf nackten Füßen ins Bad, duschte erst heiß, dann eiskalt und schrie sich dabei innerlich die Seele aus dem Leib. Ihre Gedanken kamen ihr vor wie der lahme Off-Kommentar aus einem Woody-Allen-Film, unwirklich und fremdartig, gestelzt und viel zu dramatisch. Meine Güte, sie hatte nur ein paar lange Mails mit Alex Hobdon gewechselt. War es angebracht, ein derartiges Drama aus der ganzen Sache zu machen?
Vergiss ihn einfach. Das wäre doch die Lösung. Vergiss ihn, erinnere dich an die Blicke der Männer im Publikum bei den Konzerten. Ja, genau, denk an die. Wenn sie auf der Bühne stand, war ihr die Aufmerksamkeit der Männer gewiss. Sie starrten sie an, mit dieser Mischung aus verträumter Jungenhaftigkeit und, sofern sie mit Freundin oder gar ihrer Frau das Konzert besuchten, sich desinteressiert gebendem Verlangen. Was, zugegebenermaßen, an Fayes Outfit liegen mochte: Sie bevorzugte hautenge Kleider bei ihren Auftritten, die, so hoffte sie, ein wenig von der verruchten Atmosphäre eines Clubs in den Vierzigern hatten. Schnapp dir einen von denen, hörst du! Mach dir nicht so viele Gedanken.
Oh, wie sie es hasste, sich diese klugen Ratschläge zu geben. Sie wusste, dass sie selbige nicht befolgen würde.
»Du musst nur auf der Bühne stehen, und schon himmeln sie dich an«, hatte Dana ihr einmal gesagt.
Männer konnten so dämlich sein. So einfach gestrickt.
Sie putzte sich die Zähne und betrachtete ihr Spiegelbild.
»Was glotzt du so?«, fragte sie angriffslustig.
Ihr Spiegelbild war anscheinend unbeeindruckt.
»Du siehst richtig fertig aus«, stellte sie fest.
Das Spiegelbild nickte. Dann grinste es breit, und die schäumende Zahnpasta, die seine Lippen benetzte, hatte etwas Tollwütiges.
Faye spülte sich den Mund aus und kämmte sich die Haare aus dem Gesicht. »Zeit für ein paar Special Effects«, sinnierte sie und zwinkerte sich selbst zu.
Sie verließ das Badezimmer und drehte die Musik auf.
»Goodnight Moon«.
Dann schlüpfte sie in die Klamotten, die auszusuchen ihr heute überhaupt nicht schwerfiel. Schwarz, ja, genau, heute war Schwarz angesagt! Mit knallroten Stiefeln und einem knallroten Schal mit weißen Punkten. Dazu ein Hut, der wie eine alte Blumenvase aussah. Sie fühlte sich genau so . Dazu ein Teint, der eher blass war, mit sehr roten Lippen. Ja, sie brauchte heute das Gefühl, dass sie jemand anstarrte, und wenn es nur die Passanten auf der Straße waren. Sie wollte jenes Gefühl, begehrt zu werden, haben, wenn auch nur aus der Ferne und bloß von Fremden. Sie wollte einfach nur Aufmerksamkeit und …
Ach, sie sollte nicht so viel darüber nachdenken, was sie wollte.
Sie trank Kaffee, gebraut mithilfe eines Fetzens Küchenrolle, denn das Filterpapier war ihr ausgegangen, knabberte an ihrem Marmeladetoast, öffnete schließlich das Fenster ganz und schüttete den Rest des Kaffees in den Blumenkasten, der ohnehin schon nass war.
Die Luft draußen war kalt.
Sie hasste es, wenn der Herbst so war. Die Blätter auf der Straße, die am Vortag noch bunt gewesen waren, sahen braun und matschig aus. Die Lichter der Autos spiegelten sich unruhig im nassen Asphalt. Nicht einmal die Kinder, die unten auf den Gehwegen an den Händen ihrer Eltern zur Schule
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