Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
die tatsächlich ihr Gleichgewicht verloren hatte, schluckte. »Du siehst mehr, als du sehen solltest.«
»So bin ich eben.«
»Sehen andere das auch?«
Mica lächelte. »Nein, nur diejenigen, die dich gut kennen. Komm schon, was ist los?«
»Die kurze Version?«
»Denke, dass mir die genügt.« Er ließ sich auf einen der Stühle nieder, faltete die Hände und lauschte ihr andächtig.
»Ich habe Alex Hobdon getroffen. Er war in Begleitung. Eigentlich sollte er gar nicht hier sein.«
Er nickte. »Du hast seine Geschäftsreise erwähnt. Wo sollte er denn sein?«
»Auf der GraphiCon.«
»Das hast du nicht erzählt.«
»Ich dachte nicht, dass dich das interessiert.«
»Tut es eigentlich auch nicht. Die Convention in Chicago?«
Sie nickte.
»Die war letzte Woche«, sagte er betrübt.
Faye schluckte und brachte nur ein klägliches »Oh« zustande. Sie wollte nicht glauben, dass Alex sie dermaßen belogen hatte. Konnte es sein, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts von dem, was er ihr geschrieben hatte, der Wahrheit entsprach? Warum, in aller Welt, sollte er so etwas tun?
»Tut mir leid«, sagte Mica. »Hat er behauptet, er sei auf der GraphiCon? «
Sie nickte schwerfällig.
»Gestern?«
Erneutes Nicken.
Mica machte ein nachdenkliches Gesicht. »Nicht immer sind die Dinge so, wie sie uns erscheinen«, sagte er, den Blick auf Faye gerichtet.
Faye biss sich auf die Oberlippe. Alex Hobdon schien ihr einfach kein Lügner zu sein, genau das war ihr Problem. Sie traute es ihm einfach nicht zu.
»Eben deswegen muss ich zum Waverly Place. Er arbeitet für eine Agentur. Sunset & Mindstorm. Wenn ich Glück habe, treffe ich ihn dort. Und wenn ich ihn treffe …« Sie stockte. »Keine Ahnung, was ich dann tue.« Sie zuckte die Achseln. »Und wenn ich ihn nicht treffe, bringe ich vielleicht trotzdem in Erfahrung, ob er überhaupt dort arbeitet.« Sie fuchtelte mit den Armen. »Oder irgendwas.« Sie sah Mica an. »Du weißt schon, was ich meine.«
»Du spionierst ihm hinterher.«
»Na ja, ich …« So hätte sie es nicht unbedingt formuliert, doch … »Ja, das tue ich wohl.«
»Du vertraust ihm nicht, aber du kannst auch nicht die Finger von ihm lassen.«
Faye wusste nicht, wie sie Mica klarmachen sollte, dass Alex sie so seltsam angeschaut hatte. Sie wusste nicht, wohin das alles führen sollte. Faye Archer wusste eigentlich gar nichts, aber das hielt sie nicht davon ab, irgendetwas zu tun.
»Das klingt nach großem Drama«, stellte Mica fest.
»Meinst du?«
»Vielleicht auch nach Komödie«, verbesserte er sich. »Kommt ganz darauf an.«
»Worauf?«
»Auf dich.«
Oh, das war wieder einmal eine typische Shaolin-Antwort. Mica wusste es, Faye wusste es. Und Mica wusste, dass Faye es wusste. Keiner von beiden musste etwas dazu sagen. Alles war klar.
»Kennst du einen Comic mit dem Titel Lügenlieder? «
Mica dachte angestrengt nach. »Habe schon mal davon gehört, glaube ich. Ein poetischer Titel. Aber ich weiß nicht mehr, ob wir ihn hier hatten. Ist schon etwas älter. Drei, vier Jahre oder so. Nichts, was gut lief. Ich kann mich an das Cover erinnern, vielleicht aber nur aus dem Programmheft des Verlags oder einer Besprechung im Internet.«
»Alex hat ihn gezeichnet.«
Mica staunte. »So?«
Es klingelte an der Tür, als eine Kundin den Laden betrat. »Ich mach das schon«, sagte Faye, die dankbar für die Abwechslung war. Mit all der Energie, die ihr noch geblieben war, stürzte sie sich in die Beratung. Mica sah ihr dabei zu, und Faye kannte ihn jetzt lange genug, um zu wissen, dass auch er über ihr Problem nachdachte.
Am Nachmittag machte sie sich auf den Weg. Sie nahm die U-Bahn bis zum Washington Square, um von dort aus die Avenue of the Americans entlang bis zur West 8 th Street zu gehen. Faye Archer mochte die U-Bahn nicht. Sie hasste das Gedränge und die miesepetrigen Gesichter der Menschen. Einzig die Musiker, die überall an den Ecken der muffigen und beengten Bahnhöfe hockten, mochte sie. Manche von ihnen spielten ein richtiges Instrument und sangen dazu eigene Lieder, andere trommelten mit Stöcken auf Dosen oder frönten der wild improvisierten Percussion. Sie spielten einfach alles, von Reggae bis Hip-Hop, sangen Texte, die man kannte, bis hin zu Texten, die hierhergehörten, auf die Straße, in den Untergrund, jener Welt im Zwielicht, der man kaum einen richtigen Blick schenkte.
Faye mochte auch die Graffiti, die Geschichten erzählten. Sie mochte es, wenn sie auf Kunst
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