Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
Wahrheit zu sagen.
»Nein«, korrigierte Mica sie. »Er betonte es so, als habe er früher schon einmal ein Notizbuch hier liegen lassen.« Er zuckte die Achseln. »Aber vielleicht habe ich das auch nur so verstanden. Vergiss es einfach. Du kannst den Comic jedenfalls mit nach Hause nehmen«, sagte er. »Wie gesagt, wenn du ihn behalten möchtest, gehört er dir, dann ist er ein Geschenk. Ansonsten kannst du ihn drüben einsortieren.« Er zuckte die Achseln. »Du weißt schon, wo.«
Sie starrte das Büchlein an. Es fühlte sich gut an. Das Papier war rau, und es roch nach Pappe und Leim.
»Nein«, sagte sie dennoch entschlossen. »Ich werde es mir nicht anschauen.«
»Bist du dir sicher?«, wollte er wissen.
Sie nickte langsam. »Ich glaube, es reicht.« Zum Teufel mit der Neugierde. Nichts würde sich ändern. Wie Dana, so war auch sie eine Bestimmerin, ja, tief in sich drinnen war auch Faye Archer eine Bestimmerin.
Sie schnappte sich ihren Mantel und zog die Mütze bis über die Ohren. »Es ist vorbei«, sagte sie. »Alex Hobdon ist Vergangenheit.« Sie hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen, und kein Büchlein sollte dem im Wege stehen. Sie ging mit schnellen Schritten zu den Comics und sortierte das Buch dort ins Regal ein.
»Alex Hobdon hat mich lange genug durcheinandergewirbelt«, sagte sie und drückte Mica zum Abschied einen Kuss auf die Wange. »Danke.«
Dann fegte sie mit dem Wind, der durch die geöffnete Tür in den Laden heulte, nach draußen, wo das Laub seine eigenen Tänze auf dem nassen Asphalt vollführte. Es war an der Zeit, diese Geschichte zu beenden. Und genau das würde sie heute Abend im Sansara Club tun.
9
Einige Stunden später. Samstagabend. Der Sansara Club. Prospect Park West. Riesige Häuser mit Erkern und Türmen, altehrwürdig sah hier alles aus. Dahinter, am Anfang des Parks, mitten in den Grünanlagen: ein altes E-Werk, in den Neunzigern stillgelegt. Draußen, auf dem Rasen, orientalische Lampions, im Boden steckten große Fackeln, so bunt wie der Sommer in Indien, steinerne Buddhas, lässig die Treppe am Eingang flankierend, kaum massiger als der Türsteher, der sehr freundlich wirkte, trotz Glatze, Ohrring und grimmigem Gesichtsausdruck. Es roch nach Düften, die nichts mit dem Herbst zu tun hatten. Drüben, hinter den Bäumen, beim Harmony Playground, im Park, war es still. Aus dem Club drang Musik in die anbrechende Nacht. Moderne, abgemixte Klänge. Man hörte schon von draußen die typischen Instrumente, elektronisch verfremdete Melodien, wild gemixt aus Tabla, Ghatam, Sitar, Bansuri, Chande, hier und da Harmonium, das alles im Takt eines tiefen, wummernden Bassbeats. Innen: ein Labyrinth aus Gängen, überall auf dem Boden lagen Erdnussschalen, Eisenträger an der Decke, ein Meer aus Leibern, die sich entrückt und ekstatisch bewegten. Vorn, in einem kleinen Alkoven, ein DJ mit langen Haaren und Brille, der wie in Trance die Titel mischte. Das Plakat am Eingang verhieß einen Ausflug in die Welten von Erick Morillo, Deep Dish und DJ Shah. 130 bpm waren angesagt, akustische Gitarren erhoben sich zur Percussion, die klang wie das tiefblaue Meer und das leise Rauschen des warmen Windes. Das Licht war wie Bali in der Nacht, Sterne, die mit den Xylofonen aus dem Beat emporgehoben wurden, aufflackernd, betörend. Leuchtende Salzschalen standen auf den runden Tischen, die jetzt, zu dieser Zeit, fast alle schon besetzt waren, dazu die obligatorischen Erdnüsse, die Spezialität des Hauses, bunte Drinks und kleine Mahlzeiten – Dal, Idli, Vindalho, Papadam, Naan und natürlich die vielfältigen Currys, für die der Club berühmt war –, elegant serviert in weißen Schalen oder auf groben Holzbrettern. Auf Bildern: Buddhas, das Meer, Dschungel, Strände, Menschen.
Es passte alles zusammen, die Musik nahm einen bei der Hand und führte einen immer tiefer hinein in den Club, mühelos, traumwandlerisch. Da, wo man das Meer sah – riesige Fotos von Goa prangten an den Wänden in den labyrinthischen Gängen im Keller und oben im ersten Stock; majestätische Wellen, wilde Brandung und weite Strände wurden an die Decke über der Tanzfläche projiziert –, war das Licht hellblau, überall sonst wärmte es einen in den wildesten Farben.
Faye Archer war schon einmal hier gewesen, vor Jahren. Mit wem, konnte sie nicht mehr sagen. Damals war der Club noch nicht so überfüllt gewesen wie jetzt, sondern war ein Geheimtipp, von dem man ahnen konnte, dass er nicht unbedingt
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