Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
nichts.
Stattdessen summte sie eine langsame Melodie. Eine Melodie, die all ihre Gedanken auf den Punkt brachte.
Später nannte sie das Lied, das ihr spontan eingefallen war, »The Boatman and the Girl«. Es handelte von einem Seemann und einem Mädchen, das nicht wusste, ob es den Seemann nun wirklich liebte oder einfach nur sauer auf ihn war, weil er, sofern er überhaupt einmal an Land war, andauernd in den Spelunken am Hafen mit anderen Frauen trank und sang und tanzte. Sie wusste, dass es sich am Anfang wie ein langsames Seemannslied anhörte und dann schneller wurde, bis es irgendwann wie etwas von Kurt Weill klang, wenn er einen Titel mit Ben Folds Five aufgenommen hätte. Auf dem Weg nach Hause machte sie in Keitel’s Coffee-shop halt, kaufte sich einen Kaffee im Pappbecher – Hello, Miss Coffee! – und schrieb die letzte Strophe auf einen Block, den sie sich extra zu diesem Zweck kaufen musste. Als sie dann nach einem kurzen Abstecher in den Supermarkt in ihrer Wohnung ankam, war es kein Wunder, dass sie das Lied am Klavier spielen konnte. Es hörte sich an, als habe sie es seit Wochen schon geprobt. Ehrlich und aufrichtig, mehr konnte man von einem Lied nicht erwarten.
Faye Archer war zufrieden.
Manchmal erkannte sie das Glück, wenn sie es sah. Nicht immer, aber, und nur darauf kam es an, manchmal schon.
Was soll’s, dachte sie.
Sie schnappte sich den Laptop, schaltete ihn ein, ging online und schrieb:
Holly_Go!
Du warst heute im Buchladen.
Sonst nichts. Sie las den Satz und schickte die Mail los, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob das jetzt strategisch geschickt oder dämlich war.
Die Fehlermeldung kam umgehend.
Und das war etwas, was sie überraschte.
Alex Hobdon war verschwunden.
Bingo!
Einfach so.
Sein Facebook-Profil war gelöscht, seine E-Mail-Adresse ebenso. Das Einzige, was sie fand, war die offizielle Verlagsseite von Little Gotham House mit der knappen Ankündigung, dass Sie haben von Holly gehört? Ende Februar im nächsten Jahr erscheinen sollte. Ansonsten: nichts. Keine einzige Spur, weder bei Facebook noch bei Twitter noch sonst irgendwo. Alex Hobdon war im Internet nicht mehr präsent.
»Spinner«, entfuhr es ihr.
Sie fühlte sich jetzt wieder wie das Mädchen in den letzten beiden Strophen von »The Boatman and the Girl«.
»Blödmann!«
Was sollte das? Warum hatte er sein Facebook-Account gelöscht? Und wann hatte er es gelöscht? Gestern, nachdem sie sich im Sansara Club getroffen hatten? Oder hatte Jennifer Towles da ihre Finger im Spiel? Ja, genau, das war eine Erklärung. Jennifer Towles hatte ihm eine Szene gemacht und verlangt, dass er sich von dieser seltsamen Faye Archer fernhielt. Facebook und E-Mail gab es für ihn nicht mehr, also hatte er versucht, Faye persönlich im Laden aufzusuchen, weil er noch mit ihr reden wollte. War es das?
Sie starrte den Laptop an.
»Egal«, entschied sie.
Wie war das noch gewesen? Alex Hobdon gehört der Vergangenheit an. Also sei konsequent. Sie schaltete den Laptop aus.
Als sie das Abendessen machte, dachte sie an Aaron Lescoe und die Möglichkeiten, die das Leben vielleicht noch für sie bereithielt, und plötzlich war sie wieder guter Dinge und der Tag fast schon zu Ende.
Am nächsten Tag passierte nichts im Real Books. So angenehm öde war der Tag, dass sie sich mehr wünschte, die wie dieser waren. Niemand kam ihretwegen in den Laden, niemand rief sie an, und auch sie telefonierte mit niemandem, denn Dana Carter hatte ein Meeting nach dem anderen und war mit einem neuen Mann zusammen, was nicht viel zu bedeuten hatte, sie aber beschäftigt hielt.
Abends komponierte Faye einen weiteren Song – allein und ohne Ablenkung zu sein war hilfreich, wenn man kreativ sein wollte.
»Damaged Tapes« handelte von einem Mädchen, das aus seinem kleinen, beschaulichen Heimatort in Montana floh. Sie hatte eine Kassette dabei und einen alten gelben Walkman. Auf der Kassette waren all die Lieder, die sie mit ihrem alten Leben und den Menschen in dem kleinen Kaff verband. Neunzig Minuten, ein ganzes Leben. Irgendwann während der langen Zugfahrt gab es ein Unglück: Das Band der Kassette verhedderte sich im Walkman. Keiner der Songs, die einmal ihr Leben gewesen waren, kam mit ihr in San Francisco an. Das Mädchen wurde Toningenieurin, und immerzu hatte sie Angst, dass die Aufnahmen, die sie machte, verloren gehen oder zerstört werden könnten. Am Ende verliebte sie sich in einen Sänger und erkannte schließlich, dass
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