Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
das tat sie öfter, wenn sie auf der Bühne war, und immer hatte sie Angst, dass es zu dümmlich, zu verlegen, zu laut, zu kokettierend wirkte. T. C. hatte beizeiten abgewinkt. »Das bist du, Schwester. So bist du eben drauf.« Nun denn, so hatte sie es also akzeptiert und gab sich keine Mühe, es zu verbergen. »Tja, so ist es«, fuhr sie fort und lachte noch mal, ein wenig zu laut, wie sie fand. »Sie wurden zu Stummfilmen, meine geliebten Videos, weil bei dem alten Abspielgerät der Tonabnehmer kaputt war.«
Die Leute hörten gebannt zu, einige schmunzelten. Es war ruhig, nur das Klavierklimpern, jene leise Melodie, war zu hören. Die Männer schauten ihr auf die Beine, und die Frauen schauten auf ihre Männer, und manche gaben den Männern einen Stups, der zu kräftig war, um freundlich gemeint zu sein.
»Ich musste mir die Musik einfach nur dazu denken.« Sie lächelte, zwinkerte in die Dunkelheit. – Auch das war ein Trick, den sie gelernt hatte: man schaute niemanden direkt an, sondern blickte irgendwie dicht über die Köpfe hinweg ins Publikum, wodurch jeder das Gefühl hatte, man sähe genau ihn an.
»Musik«, flüsterte sie, »wie die hier.«
Ihre Finger begannen schneller, aber immer noch leise, über die glatten Tasten zu huschen. Wie Mäuse, die nicht so recht wussten, in welche Richtung sie fliehen sollten.
»Stummfilmmusik.«
Sie zog eine Grimasse, lächelte dann gewinnend in die Menge.
Ihre Finger wurden schneller.
»Silent Movie Moments«, wisperte sie. »Willkommen.« Sie lachte auf, etwas zu laut, um zur Musik zu passen. »Hey, wie schön, dass Sie alle gekommen sind.« Erste Lacher im Publikum.
Jetzt konnte es losgehen.
»Ach ja, und ich mochte Joan Fontaine.«
Das war das Stichwort für die Techniker.
»Sie war meine Heldin.«
Über ihr, an der Wand, flackerte ein Film auf. Eine berühmte Kamerafahrt. Ein Tor, Bäume entlang der Zufahrt, bis das große Haus auftaucht. Ein Schnitt an die französische Mittelmeerküste. Wilde Brandung an den Klippen, weiter vorn, direkt am Abgrund, steht ein Mann. Eine junge Frau, die spazieren geht. Ihr Gesicht jung und verträumt. Sie bleibt stehen und sieht den Mann an den Klippen. Der Mann dreht sich um. Er sieht traurig aus.
»Hmmm«, begann Faye zu summen. »Laurence Olivier.«
Das Summen umarmte die Melodie, ließ sich von jedem einzelnen Ton bei der Hand nehmen und folgte den Tönen, wohin sie auch trippelten.
Ein weiterer Schnitt: die gleiche Frau, ein anderer Film. Cary Grant mit einem Glas Milch, das leuchtet. Er geht eine gewun dene Treppe hinauf, langsam, und die Schatten folgen ihm.
Faye spielte die ersten Takte von »Miss Coffee«.
Es war etwas Besonderes, nur mit Klavier aufzutreten. Die Takte wurden zu einem Intro, das sich vom eigentlichen Lied entfernte, ein verspieltes Etwas von ein paar Strophen, dann kehrte die Melodie zu »Miss Coffee« zurück.
»Und Sie?« Sie mochte es, das Publikum anzusprechen. Einige schauten so herrlich verdutzt. »Erinnern Sie sich auch an diese Filme? Oder haben Sie noch nie einen Stummfilm gesehen?« Im Hintergrund weitere Bilder, die Filme grobkörnig. Citizen Cane. It’s a wonderful Life.
Dann begann Faye zu singen. Ihre Stimme war hell und glasklar, so entrückt und zerbrechlich wie ein Champagnerglas.
»Hello, Miss Coffee, goodbye and hello!«
Sie konzentrierte sich auf den Text und schloss die Augen, öffnete sie, sah in die Menge, die vor ihr, unter ihr, an den vielen runden Tischen saß, kokettierte, flirtete, schlug den Blick nieder, spielte, sang. Eigentlich konnte sie niemanden im Publikum wirklich erkennen. Keine Gesichter. Die Beleuchtung ließ die Leute zu Silhouetten werden; die hinteren Reihen blieben völlig unsichtbar. Und trotzdem schaute Faye dorthin, weil dies die Illusion zauberte, sie würde auch die Menschen dort direkt anschauen.
Sie konzentrierte sich und sang, denn deswegen war sie hier.
Sie sang, weil sie dafür geboren war.
Wenn sie sang, dann spürte sie das Leben.
Nach »Miss Coffee« spielte sie »The Boatman and the Girl«, zu Bildern aus Hafenfilmen, wobei sie das Intro auf der Ukulele spielte, die sie nach der ersten Strophe beiseitelegte.
»Hafenfilme«, sagte sie dem Publikum, als sie fertig war, »sind schon so was wie ein eigenes Genre, haben Sie das gewusst?«
Lachen.
Die Wellen trugen sie.
Nach dem Applaus begann sie mit einer neuen Melodie, verträumt und lustig, wie im Zirkus. »Ich habe mich gefragt«, sagte sie, »wie es sich wohl anhört,
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