Die wundersame Geschichte der Faye Archer: Roman (German Edition)
durch den Schlitz in dem schwarzen Bühnenvorhang in den Zuschauerraum werfen, sich bereit machen.
»Mach dich mit deiner Umgebung vertraut«, hatte Mica ihr geraten, »denn du bist ein Teil von ihr, und sie ist ein Teil von dir.« Sie musste grinsen. Shaolin-Zeugs konnte auch vor einem Konzert praktiziert werden, wobei sie sich nicht sicher war, dass Mica genau diese Umgebung gemeint hatte.
John ging auf die Bühne, machte eine kurze Ansage. Es konnte losgehen.
Faye Archer wurde zu Holly Go! , und Holly Go! betrat die Bühne.
Das Gemurmel und Getuschel erstarb, gebannte Stille machte sich breit. Die Cushion Factory war nicht ganz ausverkauft, dafür aber so voll, wie es selten zuvor ein Konzertsaal bei ihr gewesen war. Früher waren hier tatsächlich Kissen hergestellt worden; Faye kannte den großen Raum mit seinen dunklen Ecken, den runden Tischen und den Stühlen. Sie war gern hier, normalerweise als Teil des Publikums bei einer der vielen Bands, die sich in Brooklyn und Umgebung herumtrieben und alle ihren Teil der Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Die Bühne war nicht sehr hoch, man saß keine zwei Stufen über dem Publikum, fühlte sich nicht so allein wie auf anderen Bühnen. Nichtsdestotrotz fühlte sich Faye an diesem Abend sehr wohl allein. Die Tatsache, dass sie auf der Bühne stand und von vielen Augenpaaren beobachtet wurde, machte die Sache nicht wirklich besser. Aufgeregt war sie nicht, wohl aber ein wenig angespannt.
Im Publikum erkannte sie vertraute Gesichter. Mica Sagong war gekommen, T. C. und Cricket ebenfalls. Cory aus ihrer Band war da, Rantz hatte es wohl nicht geschafft. Der Rest verschwand im Schatten; wie immer blendeten die Scheinwerfer sie ein wenig.
Sie schaute das Publikum an, ging direkt zum Klavier und setzte sich auf den Hocker. Sie war jetzt ein Teil des Programms, verschmolzen mit der Bühne, der Kulisse, dem, was gleich passieren würde. Das Bösendorfer, schwarz, elegant und glänzend, ein Kerzenständer darauf, mit fünf Armen, silbern, Kerzen darin. Sie mochte die weißen Tasten, und die schwarzen Tasten, ja, die mochte sie auch.
Bevor es losging, legte sie beide Hände auf die Tasten, atmete durch, schloss die Augen. Sie wusste, dass dies sehr leidenschaftlich und entrückt wirkte, jedenfalls mit der richtigen Beleuchtung, und die Beleuchtung, das musste man sagen, war erstklassig in der Cushion Factory.
Sie begann mit einem kurzen Intro, ein wenig mädchenhaft und lasziv unschuldig in die Menge schauend. Das schwarz-weiße Etuikleid war genau die richtige Wahl gewesen, es gab ihr Kraft und leuchtete elegant im Licht, dazu eine große Spange mit einem Schmetterling aus Bronze, der ihre Haare hochhielt. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass ihre leicht abstehenden Ohren so deutlich zu sehen waren, aber das machte ihr nichts aus, deswegen war sie ja auch Vaudeville und nicht Hollywood.
Es wurde ganz still im Raum, nur hier und da ein Hüsteln – es gab immer ein Hüsteln, das war eines der seltsamen Mysterien, an die sie sich schon gewöhnt hatte. Sie ließ die Stille noch einen Moment atmen.
Dann …
»Als ich klein war, fand ich auf dem Dachboden meiner Eltern eine Kiste mit Super-8-Filmen.« Sie sprach leise, aber deutlich, sehr betont, auf jede Silbe konzentriert. Immer begann sie den Auftritt mit einer Geschichte, und die Stille zwischen den Songs versuchte sie ebenfalls mit kleinen Geschichten und Anekdoten zu überbrücken. Die Zuhörer mochten diese Geschichten, und es scherte sie nicht, ob sie erfunden waren oder nicht. »Geschichten sind funkelnde Sterne am Firmament«, hatte sie einmal gesagt, »und weil jeder funkelnde Sterne mag, erzähle ich die Geschichten.« Die Leute hatten es gemocht, damals bei ihrem ersten Auftritt, und seitdem war es zu einem Ritual geworden. Und zu den Silent Movie Moments passte diese Geschichte hier. »Familienszenen. Stummfilme«, erklärte Faye, die jetzt wahrhaft von Kopf bis Fuß zu Holly Go! geworden war. »Es gab aber auch noch andere Filme. Alte Videokassetten.« Pause. »Filme, die eigentlich keine Stummfilme waren. Aber ich nannte sie trotzdem so. Also, diese Filme waren keine richtigen Stummfilme, sondern eher normale Filme aus den 40ern.« Sie machte eine weitere dramaturgische Pause. »Stummfilme mit Ton«, sagte sie. »Ja, ja, sie hatten eine Tonspur, aber sie waren trotzdem stumm.« Ihre Finger spielten die Töne, die dazu passten. »Sie wurden zu Stummfilmen, ja, seltsam, nicht wahr?« Sie lachte kurz auf,
Weitere Kostenlose Bücher