Die wundersame Reise einer finnischen Gebetsmühle
ließe. Im Gegenteil, das Tier würde zu tun haben, dem Dolch eines finnischen Mannes zu entkommen. Lauri folgte seinem Beispiel, und so setzten die Gefährten ihren Weg fort, die langen Dolche in ihren Händen blinkten im Sonnenlicht.
Mit geschärften Sinnen wanderten die Flüchtlinge über den schneebedeckten Berg. Die riesigen Raubtierspuren neben dem Pfad hätten vorzügliche Fotos zur Illustration des Eisenbahnbuches ergeben. Kalle beklagte, dass er seine kleine Kamera nicht mehr bei sich hatte. Sie würden die Herausgabe eines gesonderten Naturbildbandes ins Auge fassen müssen … Wäre als Arbeitstitel Die Spuren des Schneemenschen auf dem Dach der Welt denkbar? Lauri fand, dass sie im Moment lieber darauf verzichten sollten, literarische Projekte zu planen, viel wichtiger wäre es, dass die Bestie sie nicht überraschen und in Stücke reißen würde.
Am Nachmittag, viele Berge und Täler später und im Licht der untergehenden Sonne entdeckten sie schließlich das Raubtier. Es trottete neben dem Pfad im Schnee. Seine Fortbewegung wirkte plump, und wie es schien, hatte das Tier zwei bewaffneten Männern nicht viel entgegenzusetzen. Außerdem war es gar nicht so groß, wie die Spuren befürchten ließen, es hatte lediglich die Körpermaße eines grobschlächtigen Mannes. Die beiden Freunde schlichen näher heran, und aus etwa hundert Schritt Entfernung sahen sie deutlich, dass es sich nicht um den berühmten Schneemenschen, sondern um einen schwerfälligen Riesenpanda handelte. Aus seinen Nüstern stieg Dampf in den frostigen Abend auf. Groß war das Tier auf alle Fälle und sicherlich außerordentlich selten. Nur in dieser schroffen Gebirgslandschaft hatte man die Chance, diesem Wunder der Schöpfung und Vertreter einer aussterbenden Gattung zu begegnen.
»Vielleicht sollten wir für alle Fälle beten«, meinte Kalle.
»Allmächtiges Weltall, gib, dass der Panda uns nicht frisst«, begann Lauri, aber dann fiel ihm ein, dass Pandas keine Fleischfresser waren, sondern Bambussprossen und anderes frisches Gemüse bevorzugten. Kalle war sich nicht sicher hinsichtlich des Speiseplanes eines Pandas, und so stimmte er in das Gebet ein:
»Gnädiges All, lass dieses Raubtier seiner Wege gehen.«
Diesmal erhörte das Weltall Lauris und Kalles inbrünstiges Gebet nicht. Statt sich zu trollen, erhob sich der Riesenpanda auf die Hinterbeine, wandte sich den in seinem Blickfeld aufgetauchten Fremden zu und winkte wie zur Begrüßung mit beiden Vordertatzen. Dann setzte er sich wie ein Mensch auf zwei Beinen in Bewegung und kam mit dampfenden Nüstern direkt auf Lauri und Kalle zu.
20
Beim Näherkommen entpuppte sich das riesige Raubtier als Mensch, genauer gesagt als Mann, der in einen dichten, aus Pandafell genähten Pelz gehüllt war. Freundlich lächelnd streckte er zur Begrüßung die Hand aus. Ein wenig verwirrt verstauten Lauri und Kalle ihre Dolche in den Rucksäcken und schüttelten dem seltsamen Wesen die Hand. Viele Fragen schossen ihnen durch den Kopf, doch zunächst war es schwierig, eine gemeinsame Sprache zu finden. Der »Schneemensch« konnte, anders als manche Chinesen, kein Finnisch, und er sah eigentlich auch nicht wie ein Chinese aus. Er war breitschulterig und sogar größer als Lauri. Schließlich sagte er ein paar Worte auf Englisch, sodass man ins Gespräch kam.
Der Mann erzählte, dass er ursprünglich Kirgise sei. In jungen Jahren hatte es ihn nach China und später hierher nach Tibet verschlagen. Wie er verriet, war er ein von der chinesischen Tourismusbehörde bezahlter Schauspieler, der die Aufgabe hatte, in der Gestalt des Schneemenschen neugierige Wanderer zu erschrecken und vor allem reiche westliche Touristen ins Gebirge zu locken. Ein Schneemensch war er also tatsächlich, ein gedungenes Raubtier, das durch die Gegend streifte und seine Spuren im Schnee hinterließ in der Hoffnung, dass sie bei vorbeikommenden Wanderern Angst und Schrecken hervorriefen. Aus dem Verhalten der Finnen und aus ihren Dolchen zu schließen, war es ihm wieder einmal gelungen. Lauri und Kalle bestätigten ihm, dass sie tatsächlich entsetzt gewesen waren, als das angebliche Raubtier sie entdeckt hatte und auf sie zugekommen war. Zum Glück war alles wieder gut, sie brauchten die Waffen nicht mehr.
Der Schneemensch hieß Tsu Haingo, unter Freunden nur Tsu. Er wollte wissen, ob die Raubtierspuren echt gewirkt hatten.
Lauri und Kalle priesen die Spuren als furchterregend. Tsu zeigte ihnen seine
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