Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Wänden.
Plötzlich stockt mir der Atem.
Ich strecke einen zitternden Zeigefinger aus und berühre eine von Raffael gemalte Madonna. Dahinter entdecke ich einen Piero della Francesca, und der nächste Stapel enthält einen Tizian.
Eine Hand legt sich mir auf die rechte Schulter …
»Ich weiß, was du denkst«, flüstert Adèle Lombard. »Bleib ruhig.«
Bestürzt blicke ich auf den langen Riss in der Wange von Christus, auf den Staub, der die anderen Bilder bedeckt.
»Kommt!«, ruft der Herzog. »Kommt!«
Wir gehen mehrere Treppen hinab, immer tiefer in den Untergrund. Die Wände sind nicht mehr mit Fresken bemalt, sondern bestehen aus rötlichen Backsteinen, die im Licht der Fackeln kurz erscheinen und dann wieder verschwinden. Mir kommt dies alles grotesk vor, und ich fühle mich an Die Maske des Roten Todes erinnert, eine Erzählung von Edgar Allan Poe. Darin wird ein Palast mit hohen Mauern und stählernen Toren beschrieben, in dem ein Prinz namens Prospero und sein Hof lachen und tanzen, während die Menschen draußen in der Stadt einer tödlichen Krankheit zum Opfer fallen.
Hier unten in diesen Korridoren mit ihren engen Kurven gibt es kein elektrisches Licht. Nach einer Weile müssen wir fast laufen, um dem Herzog zu folgen, und in der Dunkelheit stolpern wir immer wieder.
Schließlich erreichen wir einen weiteren großen Saal, mit einer so hohen Decke, dass sie im Dunkeln nicht zu sehen ist. Kälte erwartet uns; inzwischen müssen wir tief unter dem herzoglichen Palast sein.
Ich nehme einen starken Geruch wahr, den ich nicht richtig zu deuten weiß. Er erinnert mich an einen schlecht gepflegten Stall, aber dahinter gibt es noch etwas anderes.
Anstrengung und Aufregung haben das Gesicht des Herzogs gerötet.
»Dies waren die Eiskeller des Palazzos. Hier wurde Schnee aufbewahrt, das ganze Jahr über, um die Speisen und Getränke des Hofes zu kühlen.«
»Da heute an Schnee kein Mangel herrscht, benutzen wir diese Räume für etwas anderes«, fügt der Konnetabel hinzu.
»Es war ein Wunder der Vergangenheit, und heute beherbergt es ein Wunder der Gegenwart. Wir haben es bei unserer letzten Fernexpedition gefunden. Unsere Suche galt Lebensmitteln, aber stattdessen fanden wir … Aber nein, es soll eine Überraschung sein. Staunt, liebe Gäste, staunt!«
Der Herzog winkt, und an der hohen Decke angebrachte Scheinwerfer vertreiben plötzlich die Dunkelheit aus dem Saal.
In der Mitte des großen Raums, in einem Käfig mit Stahlgittern, windet sich ein drei Meter langes Geschöpf wie schmerzerfüllt im jähen Licht.
Es ist schwarz und wurmartig, mit glänzendem Rückenpanzer und rundem Kopf ohne erkennbare Sinnesorgane.
Kleine Arme und Beine ragen aus dem abscheulichen Körper, menschlich wirkende Arme und Beine, ebenso schwarz wie der Rest des Wesens.
»Wartet nur ab, wartet nur ab«, sagt der Herzog. »Es wird noch besser.«
Er lässt sich von einem der Wächter eine Pike reichen, steckt sie durchs Gitter und klopft dem Wesen dreimal auf den Rücken. Langsam hebt es den Kopf und richtet sich halb auf. Dabei stützt es sich nicht mit den Beinen ab, sondern mit dem Schwanz.
Der Herzog und das Wesen stehen sich gegenüber, und es ist die Kreatur, die sich fürchtet. Man erkennt es an den nervösen Bewegungen, an dem Zittern, das einen großen Teil des wurmartigen Körpers erfasst.
»Dieses Geschöpf ist intelligent! «
Der Herzog hebt die Arme und ruft mit seiner meckernden Stimme: »Zeig, was du kannst, Scheusal! Wie viel macht zwei mal zwei?«
Das Wesen schüttelt den Kopf.
Der Herzog schlägt mit der Pike auf den gepanzerten Rücken.
»Antworte! Ich frage nur noch einmal: Wie viel macht zwei mal zwei?«
Die Kreatur senkt den Kopf, hebt ihn wieder, senkt ihn erneut. Die Bewegung wiederholt sich zwei weitere Male.
»Ausgezeichnet! Und jetzt eine etwas schwerere Aufgabe: Wie viel macht fünf weniger zwei?«
Das Wesen senkt den Kopf dreimal.
»Wollt ihr es mal versuchen?«, wendet sich der Herzog an uns. »Fragt das Wesen etwas.«
Ich schüttele den Kopf.
»Es kommt auch mit dem Multiplizieren zurecht, aber nicht mit dem Dividieren. Das muss es noch lernen. Wir bringen es ihm gerade bei.«
Vielleicht ist es die Stimme des Herzogs, die den Ausschlag gibt, oder die seltsame Würde des Wesens, das wie ein gepanzerter Wurm aussieht. Wie ein Wurm mit den Armen und Beinen eines Menschen.
Ich knie nieder.
Es steckt etwas in dem Geschöpf.
Etwas, das schreit.
Die Kirche lehrt uns, Christus
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