Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
in jedem leidenden Geschöpf zu sehen.
Aber nicht nur die Kirche. In der Trostlosigkeit eines Gefängnisses, kurz bevor sie von rechtsradikalen Freikorps-Soldaten ermordet wurde, schrieb Rosa Luxemburg außerordentliche Worte über das Leid von zwei Ochsen unter dem Joch eines Karrens.
Ich bekreuzige mich.
Das Wesen dreht den Kopf zu mir. Es fehlen Augen und Ohren; nicht einmal ein Mund ist da.
Aber es scheint mich zu sehen und zu verstehen, denn es verbeugt sich.
»Was soll dieser Unsinn? Stehen Sie auf! Machen Sie sich nicht lächerlich!«
Die Stimme des Herzogs ist fast schrill.
Meine hingegen ist ruhig und fest. »Engel Gottes, mein Beschützer, des Höchsten Vatergüte hat mich Dir anvertraut. Erleuchte und schütze dieses Geschöpf, Dir vom himmlischen Erbarmen anvertraut. Amen.«
Eine Hand versucht, mich auf die Beine zu ziehen.
»Hast du nicht gehört, was der Herzog gesagt hat, Pfaffe? Steh auf!«
Ich sehe Tucci, in der einen Hand einen klirrenden Schlüsselbund, in der anderen einen Knüppel, der nach oben kommt und auf meinen Kopf zielt.
Etwas Schwarzes erscheint plötzlich zwischen Tucci und mir, eine Art Arm. Nein – es ist die Zunge des Wesens. Zweimal zuckt sie aus dem Käfig, eine Zunge, die einen guten Meter lang ist und sich beim zweiten Versuch um den Arm des Konnetabels wickelt. Ein grässliches Knacken und Knirschen ist zu hören, und dann verschwindet die Zunge wieder im Maul des Wesens, das bis eben gar nicht zu erkennen war. Tuccis aus der Schulter gerissener Arm liegt vor dem Käfig, den Knüppel noch in der Hand.
Der Konnetabel starrt fassungslos auf den Arm und dann auf die Wunde, aus der Blut spritzt.
Mit einem Ächzen sinkt er zu Boden.
Der Herzog weicht entsetzt vom Käfig zurück, wie auch die anderen. Nur ich bleibe dicht vor dem Gitter stehen.
Ein Teil von mir – der rationale Teil, der noch an die Möglichkeit des Realen glaubt – beobachtet, wie Adèle zu dem am Boden liegenden Tucci eilt und versucht, ihn vor weiterem Blutverlust zu bewahren. Aber es ist zwecklos. Die Wunde ist zu groß; das Blut strömt zu schnell.
Ein anderer Teil von mir – ein Teil, von dessen Existenz ich bis vor wenigen Tagen gar nichts gewusst habe – hört eine leise, klagende Stimme. Es klingt zuerst nach dem Knirschen eines schadhaften Getriebes, doch dann verstehe ich erste Worte.
Sie sollen aufhören. Ich bitte dich, sie sollen aufhören. Ich bin müde, so müde. Sorg dafür, dass sie aufhören …
Langsam hebe ich den Kopf und blicke dorthin, woher die Stimme kommt.
Das Geschöpf hat sich in eine Ecke des Käfigs zurückgezogen, ein Wurm mit menschlichen Gliedmaßen, ein kafkaesker Albtraum. Wieder dreht es den Kopf in meine Richtung, und seine Gedanken sind wie eine dunkle Brühe, die in mein Bewusstsein tropft.
Er kommt … Lass nicht zu, dass sie mich ihm überlassen, dem Mann des Schmerzes. Befreie mich …
Meine Hand bewegt sich von ganz allein, streckt sich dem Schloss des Käfigs entgegen.
Mein Blick kehrt zu Tucci zurück, der jetzt von den anderen umringt ist, und ich sehe die Szene mit einer gewissen Distanz, ohne Anteil daran zu nehmen.
Wie ein Gast im eigenen Körper merke ich, dass ich mich bücke und den Schlüsselband des Konnetabels aufhebe.
Es ist der kleinste Schlüssel. Schließ auf, lass mich frei!
Ich wähle den Schlüssel aus.
Ich stecke ihn ins Schlüsselloch.
Eine Faust trifft mich am Kinn, und ich stoße gegen das Gitter. Noch einmal kommt die Faust, und diesmal bohrt sie sich mir in die Magengrube – ich krümme mich zusammen.
Durand packt mich an den Haaren und zerrt meinen Kopf nach oben.
»Hör mir gut zu, Priester«, zischt er. »Wenn du uns noch einmal einen derartigen Blödsinn anstellst, bringe ich dich um. Nein, ich bringe dich vorher um, sobald ich den Eindruck gewinne, dass du wieder Mist baust.«
Mit einem raschen Blick zur Seite vergewissert er sich, dass niemand zuhört. »Ist dir nicht klar, in welcher Situation wir uns befinden? Ein Fehler, und diese Leute massakrieren uns. Wer, glaubst du, holt uns aus diesem Loch? Etwa dein Gott?«
Ich … kann euch … hinausbringen …
»Wer spricht da?« Durand sieht sich um. Und dann versteht er.
»O mein Gott … Bist du das, Gregor Samsa?«
In meinem Kopf höre ich ein Lachen.
Auch du … denkst so von mir … wie der Käfer von Kafka? Auch du, Affe?
»Affe?«
Das bist du. Das seid ihr alle. Affen.
Die Stimme zwischen meinen Schläfen spricht diese Worte mit großem
Weitere Kostenlose Bücher