Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
sinken in sich zusammen und verrosten innerhalb von Sekunden. Nur Flecken bleiben von ihnen übrig.
Mir bricht das Herz.
Vor meinen Augen verwandelt sich die Welt in ein Grab.
Hinter der grauen Wolkendecke geht die Sonne zahllose Male auf und unter.
Tag und Nacht, Tag und Nacht.
Tausendmal und mehr.
Millionen von Malen.
Dann, eines Morgens, kommt ein Sonnenstrahl durch das Grau am Firmament.
Und noch einer, etwas länger als der erste.
An einer Stelle reißt die Wolkendecke auf, und es zeigt sich Blau am Himmel.
Mir fallen die erhabenen Worte des Psalms ein, den ich so mag und aus dem ich für die Tote im roten Kleid zitiert habe.
»Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.«
Der junge Mann mit dem Mandala auf der Brust reagiert, indem er die ersten Verse desselben Psalms spricht.
»Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder.«
Staunend beobachte ich, wie erste Grashalme aus dem Schutt kommen. Ein Loch, geschaffen vom Einsturz eines alten U-Bahn-Tunnels, füllt sich mit kristallklarem Wasser, und ein See entsteht, wird im Lauf der Jahrhunderte immer größer, während sich die Ruinen in graue Hügel verwandeln, die schließlich ebenfalls eine Decke aus Gras tragen.
Es kommt der Tag, an dem sich die Erde bewegt, und ein Geschöpf, das wie ein Mensch aussieht, aber nicht ganz Mensch ist – oder mehr als ein Mensch –, streckt der Sonne die Arme entgegen und genießt ihre Wärme.
Der junge Mann zeigt auf die Sonne und sieht dann mich an. Eine mächtige Stimme kommt aus seinem Mund, nicht seine, sondern eine Stimme wie ein Chor aus vielen unterschiedlichen Stimmen.
»Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden. Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Herrlichkeit ihren Kindern.«
Ich hebe die Hand zum Gesicht und lasse sie feucht von Tränen wieder sinken.
»Was willst du mir sagen? Was willst du mir sagen?«
Ich rufe diese Worte, ich schreie sie fast.
»Ich wollte dir zeigen, dass es für unsere Spezies eine Zukunft gibt.«
»Für meine oder für deine?«
Der junge Mann schüttelt den Kopf.
»Hast du noch nicht verstanden? Sie sind ein und dasselbe.«
Er hebt den Kopf und schnuppert in den Wind wie ein Tier. Seine Augen werden wieder weiß, die Augen eines fremden Wesens.
»Jetzt musst du gehen.«
»Wohin?«, rufe ich.
»Der Mann des Schmerzes ist gekommen.«
Das Gesicht des jungen Mannes wird zu einer Grimasse.
Das Grün und Blau, die Wärme der Sonne … All das verschwindet. Die Welt scheint sich zu leeren.
Das rote Licht und die Kälte kehren unerbittlich zurück.
Ein Tritt in die Rippen nimmt mir den Atem.
» STEH AUF, SÜNDER! DER TAG DES JÜNGSTEN GERICHTS IST GEKOMMEN! «
23
IN DEN HÄNDEN VON FEUERFRESSER
Das Gesicht des Mannes, der sich über mich beugt, ist rot und voller Zorn. Schaum klebt in den Winkeln des Mundes, der von einem wuchernden Bart umgeben ist. Er scheint der Zyklop Polyphem zu sein, oder Feuerfresser, die schreckliche Puppe aus dem Märchen Pinocchio.
Ein zweiter Tritt, noch wuchtiger als der erste.
Diesmal in den Bauch.
Ich spüre plötzlichen Brechreiz.
»Du sollst aufstehen!«, knurrt der Riese. Seine Worte haben einen starken Akzent.
»Wie soll er denn aufstehen, du Blödmann? Siehst du nicht, dass er gefesselt ist?«
Verblüffung vertreibt das Grinsen aus dem bärtigen Gesicht des Riesen.
Mit blitzenden Augen sieht er sich um.
» WER HAT GESPROCHEN! WER HAT ES GEWAGT ZU SPRECHEN? «
Niemand antwortet.
Der Riese stößt mich mit dem Fuß beiseite und macht das auch mit dem Herzog, der noch immer die Augen zugekniffen hat. Er scheint wie ein kleines Kind zu glauben, dass er mit geschlossenen Augen nicht gesehen werden kann.
Die überdeutlichen, herausfordernden Worte stammen von Guido Greppi.
Ich beobachte, wie er trotzig den Blick hebt, als der Riese auf ihn zustapft.
Es ist seltsam, dass ausgerechnet er rebelliert, denn von allen Schweizergardisten schien er mir derjenige zu sein, der am wenigsten Mut hat: ein unauffälliger Mann, der mit Waffen nur deshalb umgeht, weil sie zu diesem Beruf gehören. Für einen Helden habe ich ihn gewiss nicht gehalten.
Der Bärtige trägt einen dicken schwarzen Overall mit Wölbungen, die aussehen, als
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