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Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tullio Avoledo
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Mantel ist alles in Ordnung. Sind die Umhänge bei euch so etwas wie ein Nationalkostüm?«
    »Ein Kostüm? Nein. Wir benutzen sie einfach.«
    »Also eine Art Mode.«
    »Ich weiß nicht. Was ist ›Mode‹?«
    Mit kleinen Schritten, wie bei einem Tanz, geht sie um mich herum; ihre Bewegungen formen einen Kreis mit mir im Mittelpunkt. Sie scheint dabei zu schweben, als fände der Tanz wenige Millimeter über dem Parkett statt. Ich erinnere mich an ein Glockenspiel, im Haus eines Alten, dem ich die Zeitung brachte. Einmal, als ich ihm den Boston Herald vor die Haustür warf, bin ich gestürzt und schlug mir dabei das Knie an. Er ließ mich eintreten, und während er nach Desinfektionsmittel suchte, betrachtete ich die Objekte auf einem Regal in der Küche. Alte Fotos standen dort, eingerahmte Zeitungsartikel und eine Stickerei unter Glas mit den Worten: GOTT SEGNE DIESES HAUS.
    Mitten auf dem Regal bemerkte ich einen glänzenden schwarzen Kasten und darauf eine Tänzerin mit Ballettröckchen.
    »Gefällt es dir?«, fragte der Alte, als er mit einer Flasche Wasserstoffperoxid und einer Rolle Verbandsmull zurückkehrte.
    »Was ist das?«
    »Warte, ich zeig es dir.«
    Er öffnete den Kasten, entnahm ihm einen Schlüssel und steckte ihn hinten in die dafür vorgesehene Öffnung. Dann drehte er den Schlüssel entgegen dem Uhrzeigersinn.
    Eine Melodie erklang: ein lustiger Walzer. Und die Tänzerin auf dem Kasten begann sich im Rhythmus der Musik zu bewegen.
    Alessia erinnert mich an jene Tänzerin. An ihre Leichtigkeit. Ihre Ewigkeit.
    Auf dem Regal eines alten Hauses in Medford setzt die Tänzerin Staub an und beobachtet mit winzigen Augen eine Welt, in der es keine Jahreszeiten mehr gibt, in der es immer kalt ist und schneit, eine farblose, öde Welt.
    Manchmal frage ich mich, ob wir in der Lage sind, Gottes Pläne zu verstehen. Hat Er in Seiner unendlichen Weisheit entschieden, dass die Zeit des Menschen vorbei ist? Könnte Er unser Überleben für abscheulich halten? Vielleicht besteht das Schicksal der Erde darin, zur Stille zurückzukehren, in die Zeit vor der Zeit. Und doch … Wenn ich mir die Zerstörung meiner Heimatstadt vorstelle, bin ich tieftraurig. Vielleicht haben wir damals, als die Welt noch existierte, das Leben nicht genug geliebt. Vielleicht mussten wir dies alles durchmachen, um zu begreifen, wie kostbar es ist, wie viel ein Schluck reinen Wassers bedeutet und wie schön der Anblick von grünem Gras sein kann.
    »Du bist traurig«, flüstert Alessia, und in diesen Worten liegt ihre eigene Traurigkeit.
    »Ich musste an etwas denken …«
    »An was?«
    »An ein Objekt, das ich einmal gesehen habe. Vor langer Zeit.«
    »Hier haben wir viele Objekte. Du wirst ein anderes finden.«
    Ich sehe sie an.
    »Ja, du hast recht«, sage ich mit einem Lächeln. »Ich werde ein anderes finden.«
    Ich ziehe die Schuhe an. Sie sind weich und gleichzeitig stabil. Gute, teure Schuhe.
    Dann streife ich den Mantel über.
    Ich hätte mich jetzt gern in einem Spiegel betrachtet.
    Der Gedanke ist mir gerade durch den Kopf gegangen, als auch schon meine Wangen heiß werden.
    Wie konnte ich nur vergessen, was ich bin?
    Meine Mission, meine Priesterwürde?
    »Du solltest die Dinge leichter nehmen«, rät mir Alessia. »Versuch nicht dauernd, alles Schlechte und Traurige der ganzen Welt auf deinen Schultern zu tragen.«
    »Mein Herr hat das getan.«
    »Dein Herr ist tot.«
    Ich schüttele den Kopf. »Wir glauben, dass er nach seinem Tod wiederauferstanden ist.«
    »Das wäre traurig. Denn nach ihm ist das niemandem gelungen.«
    »Die Wiederauferstehung ist ein Versprechen. Niemand weiß, wann dieses Versprechen eingelöst wird.«
    »Aber dies wäre ein geeigneter Moment, findest du nicht? Jetzt, da alle tot sind.«
    Ein humorvoller Glanz liegt in Alessias Augen.
    Es scheinen die Augen eines Kindes zu sein, das sich gerade einen Scherz erlaubt hat.
    »Nicht alle«, erwidere ich. »Wir beide leben.«
    Alessia gibt keine Antwort und geht zur Tür.
    Ich rühre mich nicht von der Stelle.
    Nach einer Weile kehrt sie langsam zu mir zurück.
    Sie mustert mich wortlos, und ich warte darauf, dass sie spricht.
    »Ich habe hier eine Katze gesehen«, sage ich schließlich.
    »Eine Katze?«
    »Eine gestreifte Katze. Muss recht jung gewesen sein.«
    »Hier gibt es keine Katzen.«
    »Ich habe eine gesehen.«
    »Es gibt keine Katzen bei uns. Komm, lass uns gehen. Wir sollten uns nicht verspäten.«
    Ich könnte mich weigern. Das sage ich mir

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