Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Zenni. Eines Nachts im Jahre 1437 weigerte er sich bei einem Brand, den Nachbarn zu helfen und ihre Kinder zu retten. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, einen Sack mit seiner Habe in Sicherheit zu bringen. Er schleppte ihn bis zum Kanal, wo er unter seinem Gewicht im Wasser verschwand.«
Alberto hebt die Laterne, und ihr Licht fällt in einen kleinen Seitenkanal.
Für einen Augenblick glaube ich, dort eine Gestalt zu sehen, die einen großen Sack auf dem Rücken trägt und durch den trockenen Kanal stapft.
»Einige Nächte später erschien der alte Wucherer erneut, noch immer mit der schweren Last auf dem Rücken. Er atmete mühsam und bat die Leute, denen er begegnete, um Hilfe. Aber alle, die ihn kannten, gingen ihm aus dem Weg, und wer Mitleid mit ihm hatte und sich näherte, machte sich erschrocken auf und davon, wenn sich der Alte in ein brennendes Skelett verwandelte. Es heißt, dass die Seele des alten Wucherers erst dann Frieden findet, wenn ihm jemand hilft, den Sack bis zur Kirche Santa Fosca zu bringen. Jemand …«
Die Schritte des Unbekannten, der durch den Seitenkanal auf uns zukommt, sind ein ganzes Stück näher.
Alberto hebt die Laterne, damit ihr Licht auf die Gestalt fällt.
»… wie Sie!«
Ich sehe keinen Alten, sondern einen Mann in mittleren Jahren, und er trägt auch keinen Sack. Zwei Kinder begleiten ihn. Alle drei tragen Masken. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, scheinen Zwillinge zu sein.
»Du hast Pater Daniels erschreckt«, sagt Alessia.
Alberto zuckt mit den Schultern. Der Vater der Zwillinge winkt verwundert und entfernt sich dann mit seinen beiden Kindern.
»Möchten Sie noch eine Geschichte hören? Die von der weiß gekleideten Dame des Hofes Lucatello? Oder vielleicht die vom Kreuzfahrer ohne Ehre?«
Alessia lacht.
»Im anderen Leben war Alberto Schriftsteller und erzählte Geschichten über Geister.«
»Nicht nur. Ich habe Touristen, die magische oder verzauberte Orte entdecken wollten, durch Venedig geführt.«
»Tut mir leid, ich bin Priester. Ich glaube nicht an Magie.«
»Aber vorhin sind Sie erschrocken. Als Sie Nane und seine Kinder gesehen haben.«
»Und deine Kirche glaubt an Wunder«, fügt Alessia hinzu.
Die mädchenhafte Unbeschwertheit, mit der sie sich ausdrückt, erinnert mich einmal mehr daran, wie jung sie ist.
Ich seufze. »Wunder sind keine Magie.«
»Nein? Was sind sie dann? Wie unterscheidest du sie von Magie?«
Ich könnte ihr die Definition eines Wunders nach der Kirchendoktrin nennen: eine Unterbrechung der Gültigkeit von Naturgesetzen durch göttliches Eingreifen. Aber welchen Sinn hätte das? Ich stünde wie ein Kind da, das etwas wiederholt, das es auswendig gelernt hat.
»Wunder sind gut. Bei Magie ist das nicht immer der Fall.«
»Wunder sind gut?«, wiederholt Alberto und lacht. » Alle Wunder? Auch die von Moses? Die Plagen, von denen Ägypten heimgesucht wurde? Die Tötung aller erstgeborenen Ägypter? Der Regen aus Blut?«
Ich überlege noch, wie ich mich aus der Ecke herausmanövrieren soll, als mich Alessia rettet.
»Lass Pater John in Ruhe, Alberto. Erzähl uns eine andere Geschichte.«
Der junge Mann schüttelt den Kopf.
»Nein. Es sind magische Geschichten. Sie interessieren den Priester nicht.«
Eine Zeit lang gehen wir schweigend.
Wir sind jetzt Teil einer großen Menge von maskierten Leuten, die langsam über den Boden des trockenen Kanals gehen.
Irgendetwas behagt mir nicht, aber ich weiß nicht, was es ist. Wie ein falscher Ton, den meine Ohren empfangen, aber nicht festhalten können.
Schließlich bricht Alberto das Schweigen.
Er klingt fast zornig und spricht in schnellen Schüben.
»Sie, der Sie an Wunder glauben, aber nicht an Magie … Was halten Sie hiervon? Wir sind im Freien unterwegs, ohne eure Gasmasken und eure Schutzanzüge! Wir setzen uns dem Tageslicht aus, wann und so oft es uns gefällt. Wir brauchen weder zu essen noch zu trinken. Nach Ihrer Logik müssten wir tot sein! Wenn das kein Wunder ist, was dann?«
»Lass ihn in Ruhe«, mahnt Alessia.
»Und warum? Er predigt von seinem Gott, und ich darf nicht von meinem sprechen?«
In Albertos Augen scheint es zu flackern; sein Blick ist fast fiebrig.
»Und wer oder was ist dein Gott?« Beinahe schreie ich die Worte.
Instinktiv weichen die Leute in unserer Nähe ein wenig zurück.
Übelkeit steigt in mir auf. Ich weiß nicht, ob es an meiner plötzlichen Reaktion liegt oder an etwas anderem.
Alberto antwortet nicht. Er dreht sich
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