Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
direkt.«
Seit fast zehn Jahren teilen Maxim und ich dieses Quartier miteinander. Wir kennen uns so gut wie ein altes Ehepaar. Oder wie zwei Zellengenossen. Hier ist es so eng, dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als sich näherzukommen.
Oder man verliert den Verstand.
Über Maxims Feldbett hängen einige Fotos. Sie zeigen eine schöne Frau, viel jünger als er, und zwei Mädchen, blond und mit blauen Augen. Es sind keine richtigen Fotos, sondern Ausschnitte aus einer Modezeitschrift. Die Ränder sind zerfranst.
»Ich habe kein Foto von Alexia und Irina, auch nicht von meiner Frau«, hat mir Maxim eines Abends anvertraut und dabei die Bilder betrachtet. »Nur die Erinnerungen an sie sind mir geblieben. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch leben. Wahrscheinlich nicht. Wie dem auch sei, dies ist kein Leben. Ich weiß nicht, was ich mir für sie wünschen soll. Oder für uns.«
Neben den Fotos hängen vier Postkarten: die Brooklyn Bridge, der Moskauer Kreml, der Eiffelturm und die Eremitage in Sankt Petersburg.
Nach all den Jahren in der Feuchtigkeit sind die Fotos wie altes Pergament gekräuselt und ihre Farben verblasst. Ich frage mich, was aus jenen Städten geworden ist. Gestorben wie das antike Theben. Wie die Tempel von Angkor. Der schlechte Zustand der Bilder ist nichts im Vergleich mit dem Verlust jener wundervollen Orte.
In den letzten Stunden hat Maxim davon gesprochen, womit wir es bei unserer Reise zu tun bekommen könnten. Er hat die klimatischen Veränderungen und anderen Konsequenzen der neuen Eiszeit beschrieben, zum Beispiel den Rückzug der Meere. Er hat von den seltsamen Geschöpfen erzählt, die sich dort draußen herumtreiben, im Dunkeln und sogar im matten, tödlichen Licht der Sonne. Tödlich für uns, aber nicht für sie.
Er hat sein Wissen und seine Erfahrungen großzügig mit mir geteilt. Außerdem habe ich ein altes, in Leder gebundenes Notizbuch von ihm erhalten.
»Was ist das?«, habe ich ihn gefragt.
»Es wird dir gute Dienste leisten. Das Buch ist das Ergebnis langer Arbeit. Viele Personen, die nicht mehr leben, haben daran mitgewirkt. Indem du Gebrauch davon machst, ehrst du ihr Andenken. Auch meine Arbeit steckt darin. Lies es Stück für Stück.«
Ich habe in dem großen Notizbuch geblättert und Dutzende von Zeichnungen, Karten und seltsamen Umrechnungstabellen gesehen. Manche Zeichnungen erschienen mir sehr sonderbar und zeigten monströse Geschöpfe, lebend oder aufgeschnitten, die einzelnen Organe deutlich abgebildet. Organe, für die ich keine Namen hatte. Ich schätze, solche Kreaturen treiben sich in der Fantasie von uns allen herum. Ich erinnere mich daran, dass ich im Seminar einmal eine Ohrfeige bekommen habe, von einem Priester, der an mir vorbeiging. Als ich mich ihm zornig zuwandte, deutete er nur auf das Bild, das ich ins Heft gezeichnet hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein: eine Frau mit großen Flügeln. Vielleicht hatte der Priester nicht an der Frau als solcher Anstoß genommen – sie war relativ züchtig gekleidet –, sondern an ihren Flügeln.
Vielleicht war es Maxim ähnlich ergangen wie damals mir. Vielleicht hatte er die Monstrositäten in Gedanken versunken an den Rand seiner Notizen gekritzelt. Jeder von uns hat eine dunkle Seite.
Ich habe das Notizbuch nicht im Rucksack verstaut, sondern in einer Tasche meiner Jacke. Es ruht direkt über meinem Herzen und vermittelt mir dort ein beruhigendes Gefühl. Während der Reise wird es an jener Stelle bleiben. Heutzutage ist Freundschaft seltener und kostbarer als Wasser und Wärme.
Zum Abschied schließt mich Maxim in Arme, die einst so stark waren wie die eines Bären; jetzt sind es die Arme eines Alten. Schließlich gibt er mich wieder frei und sagt: »Sei vorsichtig da draußen.«
»Ich werde wachsam sein.«
»Wenn ich dich um etwas bitten darf …«, fügt Maxim zögernd hinzu.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Wenn du unterwegs bist …«
»Ja?«
»Ich würde mich freuen, wenn du Zeit fändest, gelegentlich eigene Einträge ins Notizbuch zu schreiben. Noch besser wäre es, ein Tagebuch zu führen.«
»In Ordnung.«
»Du wirst interessante Dinge sehen, manchmal auch erschreckende. Wir leben in einer Zeit, in der die Wissenschaft immer größeren Bedrohungen ausgesetzt ist. Deshalb bitte ich dich: Was auch immer dir wichtig erscheint, was auch immer dir auffällt, schreib es nieder, damit andere es lesen können.«
»Einverstanden. Jetzt muss ich los.«
Maxim nickt und sieht mir in die
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