Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Jüngsten Gerichts warten. Als wenn der nicht schon gekommen wäre. Ich habe gehört, worüber Sie gesprochen haben, Sie und Adèle. Vom Tag des Leids. Aber es gibt nicht nur einen Tag des Leids, sondern viele. Seit mehr als zwanzig Jahren ist jeder Tag damit angefüllt. Wir müssen überleben, und ich habe gelernt, worauf es dabei ankommt. Ich bin ein Spezialist für das Überleben. Kommen Sie.«
»Ich soll mich diesem Ding anvertrauen? Ist es sicher?«
»Was ist heutzutage schon sicher? Sagen wir: Wenn der Aufzug diesmal fällt, geschieht es zum ersten Mal.«
Von oben kommt das asthmatische Ächzen eines alten Dieselmotors.
»Bitte einsteigen, es geht los!«, ruft Bune aus der Düsternis weit über uns.
Es geht langsam hinauf, ohne einen Ruck. Von Schimmel bedeckte Betonwände streichen an uns vorbei. Ein wenig Licht fällt auf uns herab, gerade genug, um die beeindruckenden Ausmaße des Gebäudes zu erahnen.
»Wissen Sie, warum Rom so viele Springbrunnen hatte?«, fragt mich Adèle.
»Weil den Römern Wasser gefiel?«
»Falsch.«
»Lass es mich erklären«, sagt Durand. »Die Springbrunnen hatten nicht nur einen ästhetischen Zweck, sondern auch einen praktischen. Sie waren notwendig. Die antiken Römer waren ausgezeichnete Techniker und erbauten Aquädukte, die über Hunderte von Kilometern hinweg einen auf den Millimeter genau berechneten Neigungswinkel beibehielten. Aber trotzdem hätte das Wasser die Stadt mit einer Kraft erreicht, die imstande gewesen wäre, die Rohre platzen zu lassen. Die Springbrunnen verringerten den Druck. Diesen Zweck erfüllten die vertikalen Fontänen – sie sollten dem Wasser einen Teil seiner Kraft nehmen.«
»Das wusste ich nicht, danke. Von Ihnen hätte ich keinen Vortrag über alte Ingenieurskunst erwartet.«
»Weil Sie mich noch nicht richtig kennen. In meinem früheren Leben bin ich Architekt gewesen.«
Dieser Hinweis überrascht mich nicht. Dass Durand kein gewöhnlicher Mann ist, war mir sofort klar. Allerdings frage ich mich noch immer, was ihn zu einem Mann der Waffen gemacht hat.
»Sie würden gern wissen, wie ein Architekt zu einem Soldaten geworden ist, nicht wahr?«
»Ja.«
»Durch Zufall. Und weil es in der neuen Welt nicht mehr viel zu planen und zu bauen gab. Der Tunnel dort draußen, die Umzäunung und dieser Aufzug …«
»Das alles haben Sie entworfen.«
»Entworfen und gebaut, zum größten Teil. Mit diesen Händen.«
»Kompliment.«
»Warten Sie, bis wir oben sind.«
»Jetzt machst du ihn neugierig«, sagt Adèle mit einem Lächeln.
Ich will etwas fragen, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit einfängt und festhält.
Es ist ein Bild, ein Fresko, einfach und doch überaus eindrucksvoll, mit starken Farben, die vielleicht aus alten Spraydosen stammen. Es zeigt einen jungen Mann, gekleidet wie eine Mischung aus römischem Legionär und modernem Marineinfanterist. Zwei Gurte mit Patronen und Handgranaten ziehen sich über seine muskulöse Brust. Das Gesicht erscheint mir ruhig und freundlich. Es hat Ähnlichkeit mit einem Schauspieler aus der Zeit vor dem Leid, mit einem Mann, der damals berühmt gewesen ist; heute erinnere ich mich nicht einmal mehr an seinen Namen.
Durand winkt, und der Aufzug wird schneller. Trotzdem finde ich Gelegenheit, mir ein groteskes Detail einzuprägen.
Anstelle der Hände hat der junge Mann zwei Maschinenpistolen. Die Muskeln der Arme verwandeln sich in Waffen.
Durand und Adèle lachen leise.
»Eine neue Version des Gottes Maschinenpistole.«
Ich sehe sie verwirrt an.
Der Aufzug lässt das Bild unter uns zurück.
Zuletzt verschwindet das Gesicht des jungen Mannes. Erst das freundliche Lächeln und dann die Augen, deren Blick uns folgt, als uns der Aufzug nach oben trägt, durch ein Gebäude, das einmal ein Wasserturm gewesen ist.
Was es jetzt damit auf sich hat, weiß ich noch nicht genau. Kurz bevor der Aufzug anhält, sehe ich einen Schriftzug an der Wand, bei dem es mir kalt über den Rücken läuft.
HIER HAT DIESER GOTT KEINEN ZUTRITT.
Darunter hat jemand ein Zeichen gemalt, wie eines der alten Verkehrsschilder: ein roter Kreis mit schrägem Balken, ein Verbot.
Daneben zeigt sich eine grobe Zeichnung von Christus an einem umgestürzten Kreuz.
Ich blicke meinen beiden Reisegefährten in die Augen, und die kalte Leere, die ich dort sehe, finde ich viel schrecklicher als die monströsen Wesen, gegen die wir draußen gekämpft haben.
13
EIN GOTT DER VERGANGENHEIT
Ganz oben bietet der Turm enorm viel
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