Die Yoga-Kriegerin
älteren Jugendlichen etwas unter meiner Cool-Kid-Tour. Allmählich kamen sie mit ihren Problemen zu mir, die meistens nicht meine Liga waren. Ich war zehn oder elf. Was wusste ich schon darüber, wer mit wem schlie f oder warum? Wenn sie mir etwas erzählten, was ich nicht aufgrund meiner Lebenserfahrung zuordnen konnte, musste ich anders zu hören. Es war, als ob ihre Worte in einen Brunnen hinuntertropfen würden. Dann gab es einen stillen, geistreichen Moment, und dann tauchte eine Antwort aus einem Ort tief in meinem Inneren auf. Ich dachte nicht darüber nach; ich sagte es einfach. Es war komisch – und es machte mir Spaß. Ratschläge zu geben war besser, als herumgestoßen zu werden. Bald schon kamen auch jene zu mir, die mich am übelsten zugerichtet hatten, um meine weisen Worte zu hören.
Renee zum Beispiel hatte Probleme mit ihrem Freund. Sie war ein komischer Vogel für einen Stall: ein tussenhaftes Girlie, das Tonnen von Eyeliner trug, ihre Haare hochtoupierte und sich immer in die neueste Mode zwängte. Sie beschwerte sich bei mir darüber, wie oft sie und ihr Freund stritten. Was sollte sie tun? Die Antwort kam aus dem Brunnen: »Frage ihn, was er braucht.« Wie seltsam war das denn? Es war Ende der Sechziger. Niemand fragte Teenager, welche Bedürfnisse sie hätten; und sicher hat auch niemand Ray gefragt. Aber es funktionierte: Bald holte sich auch Ray bei mir Rat.
Gleichzeitig waren meine Schutzschilde undurchdringlich. Sie wa ren so sehr ein Teil von mir, dass ich dachte, dass ich sie wäre . In meinem Mund war die Wahrheit eine wirklich scharfe Waffe, etwas, mit dem ich jeden austricksen konnte, der mir gegenüber aggressiv war oder mir überlegen schien. Wie Harry, der nur ein kleines bisschen schwächlicher war als der Rest unserer Bande, ein bisschen »begüterter«. Vielleicht hat ihn sogar jemand geliebt. Ich nahm ihn ins Visier. Als ich herausfand, dass er Angst vor Poncho, diesem graubraunen Pferd, hatte, das ihm ständig einen Schrecken einjagte, warf ich Harrys Ängstlichkeit und seinen Mangel an Erfahrung in die ganze Gruppe wie einen verwundeten Fisch, den man an die Haie verfüttert: »Du hast Angst vor Poncho? Du bist acht Jahre älter als ich, und ich kann ihn reiten. Er kann dich jederzeit abwerfen.« Ängstlichkeit rund um die Pferde war der Todesstoß im Stall. Die Bande liebte meine scharfe Zunge – und zwar so lange, bis sie selbst an der Reihe waren, auseinandergenommen zu werden. Wenn mich jemand ärgerte, nahm ich das Geheimnis, das er oder sie mir anvertraut hatte, und schleuderte es ihnen vor die Füße, vor allen anderen. Ich be nutzte die Wahrheit rücksichtslos, verschoss sie wie einen Pfeil mit der Absicht zu verletzen, aber auch die emotionalen Infektionsherde anzustechen, die wir alle mit uns trugen – sogar hier versuchte ich zu heilen. Ich konnte niemandem vertrauen, und sie konnten mir nicht vertrauen.
Mit Ausnahme von Maya und Nick waren die Pferde die Einzigen, die mir die Wahrheit sagten. Wenn ein Pferd auf dich sauer ist, wird es wie verrückt versuchen, dich zu treten oder zu beißen. Wenn dich ein Pferd mag, kannst du die Zuneigung spüren, die es ausstrahlt. Die Pferde waren die einzigen Lebewesen, die ich bedingungslos liebte – und sie wiederum akzeptierten mich. Ich konnte Stunden in ihrer friedlichen Umgebung verbringen. Die Hackordnung der Pferde auf der Koppel machte Sinn. Einige Pferde freundeten sich an, standen Kopf an Schweif, rieben ihre Zähne am Rücken des an deren und wedelten die Fliegen voneinander weg. Dieses soziale Sys tem der Pferde war das erste Beziehungsmodell für mich. In der Bande war ich immer aufgedreht oder betrunken oder high oder kämpfte mit Fäusten oder Worten um mein Leben. Die Pferde hingegen schienen das alles ganz leicht kapiert zu haben. Und wenn ei nes aus der Reihe tanzte, stellte ein schneller Biss die Ordnung wieder her. Pferde faszinierten mich.
Nick ließ jeden von uns Gehilfen eines der Mietpferde als sein spezielles Lieblingstier aussuchen, eines, dem er besondere Aufmerksamkeit schenkte und mit dem er, wenn es nicht zu viel Arbeit gab, ausreiten konnte. Ich wählte Span, das hässlichste Pferd im Stall. Span war alt mit einem Hohlkreuz und Geschwüren an ihren Beinen, einem lustigen, knubbelig höckernasigen Kopf und einer völlig un ausgeglichenen Gangart. Sie war eine sichere Wahl, da sie sonst nie mand wollte. Ich hatte bereits gelernt, dass mir weggenommen wurde, was immer ich auch haben
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