Die Zahl
eingeschlafen, jemand hatte das Auto mit Klopapier umwickelt, und nun wurde er von einer Stalker-Furie geweckt, die sich in einen Pelzalbtraum gewickelt hatte, für den mindestens vier niedliche Luchse ihr Leben hatten lassen müssen. Wenigstens konnte es nicht mehr schlimmer werden.
»Es hat Minusgrade, Herr Kommissar«, kreischte die Schubert. »Nicht auszudenken, was Ihnen alles hätte passieren können. So
ein Glück, dass ich diesen Anruf bekommen und Sie geweckt habe. Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn Sie noch länger hier in der Kälte gelegen hätten.«
»Was für einen Anruf?«, wollte Morell wissen.
»Na, einen Anruf halt. Irgendein besorgter Bürger hat gesehen, dass Sie hier schlafen, und mich angerufen, damit ich Sie rette.«
»Wer zum Teufel ...«, begann Morell, aber wie immer ließ Agnes Schubert ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich habe Ihnen Frühstück mitgebracht. Croissants und Semmel, frisch aus dem Ofen. Die sind sogar noch warm.« Sie hielt die Tüte vor die Scheibe und wartete, dass Morell das Fenster ganz aufmachte.
Morell starrte auf die Tüte: tanzende Brezen. Das war zu viel für ihn. Er drehte den Zündschlüssel und stieg aufs Gaspedal. Er hörte, wie die Flaschen klirrten, als sie von der Kühlerhaube fielen, und im Rückspiegel konnte er Agnes Schubert sehen, die ihm fassungslos nachstarrte.
Bei der nächsten Kreuzung wurde dem Chefinspektor bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wohin er überhaupt fuhr. Als er losgebraust war, hatte er kein bestimmtes Ziel vor Augen gehabt, sondern er wollte einfach nur weg.
An und für sich gab es nur zwei Orte, die zur Auswahl standen: das Revier oder sein Zuhause. Morell tendierte schwer zu Letzterem. Er wollte ein warmes Bad nehmen, etwas frühstücken, sich dann in sein großes, flauschiges Bett legen und dort schlafen. Er wollte einschlafen und vergessen, die Schmach und Schande der vergangenen Nacht einfach wegschlafen.
Er setzte den Blinker, um rechts abzubiegen, als eine Welle von Wut, Zorn und Erregung ihn überkam. Er war müde, jeder einzelne Muskel in seinem Körper war verspannt, er hatte Hunger und Kopfschmerzen – und was am allerschlimmsten war: Er hatte versagt. Wie hatte er nur einschlafen können? Früher, bei der
Kripo in Wien, hatte er solche Fehler nicht gemacht. Er hatte viele Nacht- und auch Doppelschichten geschoben und war kein einziges Mal dabei eingenickt. Wie sollte er denn ab heute noch in den Spiegel schauen? Und damit nicht genug. Jemand hatte sein Scheitern mitgekriegt und ihn gedemütigt. Jemand hatte ihn lächerlich gemacht, indem er sein Auto mit Klopapier umwickelt, Müll auf die Kühlerhaube gekippt und ihm Agnes Schubert auf den Hals gehetzt hatte. Er presste seine Lippen zusammen und schlug aufs Lenkrad. »Kruzifix!«, schrie er. Dieser Jemand war eindeutig zu weit gegangen, und Morell war sich zu einhundert Prozent sicher, dass er wusste, wer dieser Jemand war – Karl Kaiser. Dieser schmierige Zuhälter war schuld an allem. Sicher war er es gewesen, der die Papierattacke veranstaltet hatte, und sicherlich hatte er Agnes Schubert angerufen. Wahrscheinlich wusste das ganze Dorf von der Obsession der Küsterin, warum also nicht auch Karl Kaiser. »Na warte«, murmelte Morell, riss das Lenkrad herum und fuhr nach links. »Dafür wirst du büßen!« Wutschnaubend zog er sein Handy aus der Tasche und rief Bender an.
»Morgen, Robert, hier ist Morell. Wir treffen uns in zehn Minuten vor Kaisers Haus und nehmen die Hausdurchsuchung vor.«
»Aber, Chef ...«
»Kein aber! In zehn Minuten vor Kaisers Haus.«
»Aber, Chef ...«, versuchte Bender seinen Vorgesetzten zu bremsen, doch da hatte Morell schon aufgelegt.
»Weiter kam er an einen klaren Teich, in dem schwammen
zwölf Enten. Helmerich lockte sie ans Ufer und tötete
deren elf, nur die zwölfte entkam.«
Ludwig Bechstein, Die verzauberte Prinzessin
Maria wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie hatte in einem dämmerartigen Zustand vor sich hin gedöst und wurde plötzlich von einem Geräusch aus ihrer Lethargie gerissen. Es war eine Art Scharren oder Kratzen direkt über ihr. Sie erschrak und presste sich gegen die Wand.
Was war das? Ein Tier? Oder vielleicht doch ein Mensch? War das die Rettung? Oder das Ende? Sie schwankte zwischen Hoffen und Bangen. Das Geräusch veränderte sich und wurde zu einem Knacken. Zögerlich sah sie nach oben. Einige Meter über ihr hatte jemand eine Art Deckel oder Verschluss ein
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