Die Zahl
kleines bisschen zur Seite geschoben. Ein dünner Lichtstrahl durchdrang das Dunkel.
Da oben war also jemand. »Hallooooo!«, schrie Maria. »Ich bin hiiiiieeeeer! Kann mich irgendwer hören?«
Keine Antwort. »Holt mich hier raus!«, brüllte sie weiter. »Halloooooo!« Immer noch keine Rückmeldung. Sie starrte auf den kleinen Spalt hoch über ihr. Dort oben ging es also hinaus. Dort oben war der Ausgang. Der Fluchtweg. Die Freiheit. Das Leben. Doch es war zu hoch. Viel zu hoch. Zu weit entfernt. Unerreichbar.
Durch das kleine Quäntchen Licht, das in ihren Kerker drang,
konnte Maria ein wenig von ihrem Gefängnis sehen. Rund um sie herum ragten alte Mauern in die Höhe, dreckig und mit Moos bewachsen.
Warum antwortete die Person da oben nicht? Warum ging die Abdeckung nicht weiter auf?
»Hallooo«, rief sie noch einmal. Dort draußen war ganz sicher irgendwer. Sie konnte den Wechsel von Licht und Schatten erkennen. »Hol mich hier raus!«
Endlich tat sich etwas. Sie sah, wie etwas durch den kleinen Spalt geschoben wurde. Ein Strick!
Eine Welle der Erleichterung überkam sie, und Maria fing vor lauter Freude an zu schluchzen. Man würde sie hier rausholen. Sie retten.
Sie reckte sich, streckte ihren Arm nach dem vermeintlichen Seil aus, das langsam heruntergelassen wurde. Tiefer und tiefer. Gleich würde es in ihrer Reichweite sein.
Doch dann hielt es still und kam nicht mehr näher. Nur wenige Zentimeter von ihrer ausgestreckten Hand entfernt blieb es hängen und spuckte sie an.
Erst ein kleines Tröpfchen, dann einen ganzen Schwall Wasser spie es ihr ins Gesicht. Das, was sie für ein Seil gehalten hatte, war ein Schlauch. Und dieser Schlauch hatte gerade begonnen, Wasser in den Schacht zu pumpen, in dem sie gefangen saß.
Maria begann zu kreischen. Sie schrie so laut, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Sie schrie sich die Lunge aus dem Leib, schrie um ihr Leben, um all die Dinge, die sie versäumt hatte, um ihre Kinder und all die Möglichkeiten, die nun nicht mehr kommen würden.
Der kleine Spalt über ihr wurde zugedeckt, und mit dem Licht erstarben auch Marias Schreie.
»Stolz war sein Ingesinde: Zwölf hochgeborne Kinde ...«
Wolfram von Eschenbach, Parzival und Titurel
»Chefinspektor Morell, langsam habe ich das Gefühl, dass Sie ohne mich nicht mehr leben können«, grinste Karl Kaiser, als er die Tür öffnete. »Oder was verschafft mir schon wieder die Ehre Ihres Besuchs?«
»Wir sind hier, um Ihr Haus zu durchsuchen«, erwiderte Morell und drängte sich an Kaiser vorbei in den Flur.
»Moment mal, Herr Morell, brauchen Sie dazu nicht einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Nein«, stellte Morell kurz und knapp fest und zog sich Gummihandschuhe an, die Bender aus dem Revier mitgebracht hatte.
»Der Durchsuchungsbeschluss ist unterwegs«, klärte Bender den Barbesitzer auf. »Wenn Gefahr in Verzug ist, darf eine Hausdurchsuchung auch ohne amtliches Papier durchgeführt werden. Sofern Sie uns nicht behindern, haben Sie das Recht, bei der Durchsuchung anwesend zu sein.«
»Gefahr in Verzug?«, fragte Kaiser nun gereizt und zog seinen Morgenmantel fester zu. »Welche Gefahr geht denn von mir aus?«
»Sie werden verdächtigt, etwas mit den Morden an Josef Anders
und Andreas Adam zu tun zu haben«, sagte Morell und schaute Kaiser böse an.
»Jetzt lassen Sie doch endlich diesen Quatsch! Sie waren doch in den letzten Tagen so oft bei mir, da sollten Sie mich besser kennen.«
»Eben darum«, sagte Morell, drehte sich um und marschierte schnurstracks ins Wohnzimmer.
Kaiser folgte ihm. »Ich erhebe Einspruch! Ich werde das nicht akzeptieren! Sie haben ja nicht einmal einen gültigen Durchsuchungsbeschluss. Das wird Sie noch teuer zu stehen kommen. Das wird Sie ihren Posten kosten!«
»Wissen Sie was«, sagte Morell, baute sich breitbeinig vor Kaiser auf und streckte sich, sodass seine ganze Masse voll zur Geltung kam. »Tun Sie doch, was Sie wollen. Es ist mir egal. Haben Sie das verstanden? E-G-A-L!«
»Was soll denn das? Wollen Sie mir etwa Angst machen?«
»Ich bin normalerweise ein friedliebender, netter Mensch«, grollte Morell und starrte Kaiser an. »Aber ich kann auch anders. Also lassen Sie meinen Kollegen und mich nun endlich unsere Arbeit tun!« Er bedeutete Bender mit einer Kopfbewegung, ihm ins Wohnzimmer zu folgen. Dort öffnete er ohne Umschweife eine Schublade und begann deren Inhalt durchzusehen.
»Kann ich Ihnen denn irgendwie behilflich sein? Je schneller wir
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