Die Zahl
Ort vornehmen könntest, wenn du einen zweiten Arzt und die nötigen Instrumente dazu hättest. Wenn ich dir das alles besorgen würde, glaubst du, dass du dann ...«
Capelli überlegte keine Sekunde. »Du, das ist kein Problem«, sagte sie. »Ich habe so oder so nichts Besseres vor, und Sezieren ist wahrscheinlich das Einzige, was ich hier an Unterhaltungsprogramm geboten bekomme. Wenn du mir einen Arzt, ein Skalpell, eine kleine Säge, eine Rippenschere, einen Rippenspreizer, eine lange Pinzette und ein Nähset besorgst, dann sehe ich mir deine Leiche gerne noch einmal genauer an.«
Morell nickte dankbar und notierte sich die gewünschten Instrumente. »Prima, ich ruf dich an, sobald ich alles beisammen habe. Also bis dann – und vielen Dank!«
Er legte auf und wählte die Nummer des neuen Gemeindearztes. Leider war der gerade außer Haus, allerdings bekam Morell von der netten Sprechstundenhilfe dessen Handynummer. Da er dort nur die Mailbox erreichte, hinterließ er eine Nachricht, lehnte sich in seinem Sessel zurück und versuchte noch einmal, den Tathergang zu rekonstruieren.
Der Täter hatte mit dem Friedhof einen für seine Zwecke denkbar günstigen Platz ausgesucht. Der Ort war nachts nicht beleuchtet, und die meisten Kerzen, die normalerweise für ein wenig Helligkeit sorgten, waren vom Schnee oder dem Wind ausgelöscht worden. Außerdem war der Himmel in jener Nacht durch dicke Schneewolken verhangen, deshalb konnte auch der Mond kein Licht spenden.
Die Temperaturen in Landau fielen im Dezember oft weit unter null Grad, sodass sich kein Mensch am Abend noch freiwillig draußen herumtrieb. Im Sommer fanden es Jugendliche oft aufregend, Mutproben zu veranstalten und in der Nacht über den Friedhof zu huschen, oder sie saßen am Abend zwischen den Grabsteinen und tranken Bier, in der Hoffnung, dass ihre Eltern sie nicht entdeckten. Im Winter aber war der Friedhof im wahrsten Sinne des Wortes wie ausgestorben.
Ein weiterer Vorteil, den der Fundort mit sich brachte, war der Kies auf den Fußwegen. Es war unmöglich zu rekonstruieren, wie der Täter den Körper bis zum Baugerüst gebracht hatte. Hatte er ihn getragen, hinter sich hergeschleift, geschoben oder mit Hilfe eines Sackkarrens oder einem Rodel transportiert? Von welcher Seite war der Mörder mit seinem Opfer gekommen? Wenn man mit einem Besen oder Rechen die kleinen Steinchen wieder ebnete, konnte man damit wunderbar alle Spuren beseitigen. Den Rest hatte der Schneefall erledigt.
Ein dritter Punkt war die Tatsache, dass der Friedhof Tausende von Verstecken bot. Wäre der Täter gestört worden, hätte er sich hinter einem der Grabsteine verbergen können. Außerdem gab es nicht nur einfache Gräber, sondern auch einige Gruften. Ein geschickter Mensch hätte sich sicherlich ohne Probleme Zugang zu einer von ihnen verschaffen können. Es war sogar denkbar, dass der Täter die Leiche schon vorher auf dem Friedhof versteckt hatte und sie in besagter Nacht nur noch bis zum Baugerüst transportieren musste, um dort dann sein schauriges Werk zu vollenden.
Je mehr Morell darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass es dem Täter bei der Wahl des Fundortes nicht darum gegangen war, einen Bezug zur Kirche herzustellen, wie Bender vermutet hatte. Der Friedhof war unbeleuchtet, menschenleer, bot viele Verstecke und gab dem Mörder trotzdem die Sicherheit, dass sein Opfer am nächsten Tag von vielen Menschen gesehen wurde.
Er rief erneut nach seinem Assistenten. »Du, Robert, hast du eigentlich schon etwas Interessantes zum Thema Zwölf und Kirche gefunden?«, fragte er.
Bender wirkte sofort ganz aufgekratzt. »Da gibt es tatsächlich einiges.«
»Dann zeig mal her«, sagte Morell, obwohl er sicher war, dass Bender mit seiner Vermutung danebenlag.
Der junge Inspektor düste zurück zu seinem Arbeitsplatz und kam nur wenige Augenblicke später mit einem Stapel Papier wieder zurück. »Im Alten Testament gibt es etwas, das sich das ›Zwölfprophetenbuch‹ nennt«, fing er sofort an zu erzählen und setzte sich hin. »Das ist eine Sammlung von zwölf Schriften.«
»Und worum geht es da«, fragte Morell und lehnte sich zurück.
»Im ersten Buch geht es um Gottes erbarmende Liebe«, las Bender ab.
»Gottes erbarmende Liebe stelle ich mir anders vor.« Morell schaute zum Fenster hinaus und betrachtete die dicken, grauen Schneewolken, die vom Wind am Himmel entlanggetrieben wurden.
Bender ließ sich von dem plötzlichen Sarkasmus seines
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