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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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alles. Sie wusste, welches Kind bei der Sonntagsmesse in der Nase bohrte, in welchen Haushalten der Müll nicht richtig getrennt wurde und wer die Hundehaufen am Gehsteig nicht wegmachte.
     
    Frau Vogelmanns Haus war, genauso wie seine Bewohnerin, alt und ein wenig windschief.
    Als sie die Tür öffnete, sah Morell in ihr runzliges, von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht. Es erinnerte ihn an eine Landkarte, die von Flussläufen durchzogen war. Nur dass diese Flüsse nicht frisch und blau, sondern braun und ausgetrocknet waren.
    Obwohl sie eigentlich sehr rüstig war, hatte Frau Vogelmann immer einen Stock bei sich. Er war wohl mehr als Waffe denn als Gehhilfe gedacht.
    »Na, das wird aber auch endlich Zeit, dass du hier auftauchst, Bua! Obwohl es jetzt eigentlich zu spät ist«, sagte sie keifend.
    Morell hatte schon hundertmal versucht ihr klarzumachen, dass er ein erwachsener Mann und noch dazu der oberste Gesetzeshüter in Landau war. Trotzdem bestand sie darauf, ihn als ›Bub‹ zu titulieren.
    »Ich wollte mit Ihnen über Josef Anders sprechen«, sagte er.
    »Natürlich, natürlich«, krächzte Frau Vogelmann. »Worüber denn sonst? Komm rein, Bua!« Sie drehte sich um und schlurfte langsam in ihr Haus.
    Bisher hatte sie Morell immer auf dem Revier aufgesucht. Er war noch nie bei ihr daheim gewesen.
    Als er noch klein war, erzählten die älteren Kinder Gruselgeschichten über Frau Vogelmann. Sie sagten, dass sie Babys kochte und aus Kröten und Schlangen grausige Elixiere braute, durch die man blind oder lahm werden konnte. Als Morell jetzt, so viele
Jahre später, das erste Mal einen Fuß in das vermeintliche Hexenhaus setzte, musste er sich eingestehen, dass er dabei ein mulmiges Gefühl hatte.
    Sehr zu seiner Überraschung sah es im Haus von Frau Vogelmann so wie im Haus einer ganz normalen alten Dame aus. Es roch nach Kölnischwasser und Gebäck, und es gab alte Fotos, Kruzifixe und Spitzendeckchen, wohin man auch sah.
    Morell atmete erleichtert auf. Als hätte Frau Vogelmann seine Gedanken erraten, sagte sie: »Was hast du erwartet, Bua? Schrumpfköpfe und einen brodelnden Hexenkessel?«
    Morell fühlte sich ertappt und wusste wieder einmal nicht, was er sagen sollte.
    »Ich bin vielleicht alt, Jungchen«, krächzte sie, »aber hier oben bin ich noch sehr fit.« Dabei klopfte sie sich mit dem Finger an die Stirn. »Ich weiß, was die Leute von mir denken.«
    »Und das stört Sie gar nicht?«, wollte Morell wissen.
    »Im Gegenteil«, sagte Frau Vogelmann. »So habe ich wenigstens meine Ruhe. Vor allem vor den Kindern, diesem ungezogenen Rotzpack! Wie die sich teilweise aufführen. Ich kann nur sagen, so etwas hätte es in meiner Jugend nicht gegeben. Meine Eltern hätten mir ganz schön den Hosenboden strammgezogen.«
    Morell setzte sich auf einen kleinen, wackligen und sehr filigranen Stuhl, auf den Frau Vogelmann mit ihrem Finger zeigte. Er war nicht sicher, ob der Stuhl, der den knochigen, ausgemergelten Hintern der alten Frau gewohnt war, sein Gewicht aushalten konnte, und erlebte schon wieder eine Überraschung. Der Stuhl gab zwar ein verdächtiges Knacken von sich, war seiner Fülle aber anscheinend gewachsen.
    »Sie wissen also, dass Josef Anders ermordet wurde?«, fragte Morell.
    »Natürlich, ich sagte dir doch schon, dass ich hier oben noch sehr gut beieinander bin.« Sie tippte sich wieder an den Kopf. »Auge um Auge, Zahn um Zahn, so steht es geschrieben. Kaffee?«
    »Was meinen Sie damit?«, fragte Morell und ruckelte nervös auf dem viel zu kleinen Stuhl herum.
    »Ob du eine Tasse Kaffee möchtest, Bua.«
    »Nein, das heißt doch. Ich möchte sehr gerne eine Tasse Kaffee«, sagte Morell, »aber ich wollte eigentlich wissen, was Sie mit dem Ausspruch ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ sagen wollten.«
    »Damit will ich sagen, dass Josef Anders ein schlechter Mensch war. Er hat meinen Walti umgebracht, und nun hat er die gerechte Strafe dafür bekommen. Darum bist du doch da, Bua, nicht wahr? Du kannst endlich beweisen, dass die Sache mit Walti kein Unfall war.«
    Morell schluckte. Darum ging es also. Josef hatte vor ungefähr acht Wochen beim Rückwärtsfahren aus seiner Ausfahrt Frau Vogelmanns Kläffer Walti überrollt. Frau Vogelmann behauptete, es sei Mord gewesen, während Joe von einem bedauerlichen Unfall gesprochen hatte.
    Morell glaubte an die Unfallversion. Josefs Ausfahrt war sehr schmal und unübersichtlich, und Walti war so klein gewesen, dass es gut vorstellbar war, dass Josef

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