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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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schlimmer, als er von ein paar starken Händen an den Füßen gepackt und langsam weggeschleift wurde.
    Schnee drang in seinen Kragen und an seinem Hosenbund ein. Es fühlte sich kalt und widerlich an. Andreas versuchte zu schreien, aber aus seiner Kehle drang nur ein erbärmliches Krächzen.
    Seine Verstörtheit wandelte sich langsam in Panik. Er wollte die
Arme bewegen, versuchen, seinen Entführer zu stoppen, aber es gelang ihm nicht. Sein ganzer Körper war wie gelähmt. »Aus«, rief er. »Aufhören! Loslassen! Was zur Hölle willst du von mir?«
    Aber diese Schreie hallten nur in seinem Kopf wider. Lautlos. Für niemanden sonst zu hören.
    Wohin brachte ihn dieser Verrückte? Was hatte er mit ihm vor? Andreas öffnete seine Augen einen kleinen Spalt breit, aber sofort machte der Schnee, der hineinfiel, seinen bereits verschwommenen Blick noch viel unschärfer.
    Er versuchte zu erkennen, wer ihn durch die eiskalte Nacht zog, konnte aber nur die schemenhaften Konturen einer dick vermummten Gestalt sehen.
    Womöglich hatte Beate diese ganze Aktion organisiert, um ihm eins auszuwischen, oder ein paar seiner Freunde wollten ihm einen Streich spielen. Nur dass das hier nicht lustig war!
    Andreas konnte nicht mehr weiterdenken, dazu war er viel zu benommen. Er kämpfte gegen die Düsternis, die sich in seinem Kopf ausbreitete. Er wollte nicht ohnmächtig werden, nicht bevor er sicher sein konnte, dass das kein böser Traum oder ein schlechter Scherz war.
    Aber dafür war es zu spät. Alles um ihn herum wurde schwarz.

»Am 28 .August 1749 , mittags mit dem Glockenschlage zwölf,
kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt.«
    J. W. Goethe, Dichtung und Wahrheit
    »Guten Morgen, mein Schatz!« Lorentz’ Mutter drückte ihrem Sohn einen fetten Kuss auf die Wange. »Komm, du Faulpelz, aufstehen!« Sie zog die Jalousien hoch.
    Lorentz zerrte sich die Decke über den Kopf. »Sag mal, wie spät ist es?«, murmelte er. Seine innere Uhr sagte ihm, dass es mitten in der Nacht sein musste.
    »Es ist neun Uhr, und das Frühstück ist auch schon fertig.«
    Es
war
mitten in der Nacht! All die Jahre an der Universität hatte Lorentz es sowohl als Student als auch als Dozent geschafft, keine Vorlesung vor elf Uhr zu haben. »Nur noch fünf Minuten!« Er wartete, bis seine Mutter das Zimmer verlassen hatte, zog sich die Decke wieder vom Gesicht, starrte an die Wand und dachte an gestern – an die wirren Gefühle Iris gegenüber, an das schlechte Gewissen, das ihn überkam, wenn er an Joe dachte und an die Abfuhr, die er auf der Polizeiwache hatte einstecken müssen.
    Er war sauer. Der dicke Bulle hatte ihn eiskalt abblitzen lassen. Dabei wollte er ihm doch nur helfen. Lorentz schloss die Augen wieder.
    Die Wahrheit schlich sich langsam in sein Bewusstsein, und wie so oft war sie ziemlich unangenehm. Er wollte Morell doch gar nicht helfen. Wenn er ehrlich war, dann wollte er einzig und allein sich selbst retten und die miesen Gefühle, die sich gestern in seinem Bauch und seiner Brust eingenistet hatten, wieder loswerden. Schamgefühl überkam ihn. Er hatte sich bloßgestellt, sich unmöglich gemacht.
    Lorentz stöhnte und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich muss so schnell wie möglich wieder weg von hier!«
    Er quälte sich aus dem Bett, zog sich an und ging zum Fenster. Draußen schien die Sonne, und weit und breit war keine Schneeflocke zu sehen. Wenigstens das Wetter war auf seiner Seite. Wenn es nicht wieder anfing zu schneien, war er übermorgen von hier weg. Solange würde er sich verwöhnen lassen und nicht aus dem Haus gehen. Er ging runter in den Wintergarten, wo sein Vater und seine Oma bereits beim Frühstück saßen.
    »Guten Morgen«, sagte seine Großmutter, »setz dich her und iss etwas.« Sie schob ihm einen Teller hin. »Mein Gott, ohne den dicken Pulli, den du gestern getragen hast, siehst du aber furchtbar dünn aus.«
    Lorentz bedachte sie mit einem bösen Blick.
    Er beschloss, sich gleich nach dem Frühstück noch einmal aufs Ohr zu legen.
    Er wollte gerade zurück in sein Zimmer gehen, als seine Mutter auf ihn zugesteuert kam. Lorentz ächzte. Sie würde ihm bestimmt wieder von den Kindern und Errungenschaften seiner ehemaligen Mitschüler und Sandkastenfreunde erzählen, von denen sie ja einige gestern bei der Trauerfeier gesehen hatte. Diese Geschichten waren immer auch unterschwellige Vorwürfe. Warum war er kein erfolgreicher Geschäftsmann, mit dessen Erfolgen sie angeben konnte? Warum war sie

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