Die Zahl
gemeinsam mit ihm in den Tod gehen will.«
»Und was soll das jetzt heißen?«, wollte Capelli wissen.
»Jetzt warten Sie doch einmal ab!« Die Frau nervte. Lorentz warf Morell einen verschwörerischen Blick zu. »Der zweite Begriff lautet Antigone.« Er wartete darauf, dass Capelli ihm wieder ins Wort fiel. Nachdem sie aber nichts sagte, machte er weiter. »Antigone ist eine Gestalt aus der griechischen Mythologie. Als ihr Bruder starb, verbot König Kreon, dass man ihn begrub, aber Antigone widersetzte sich dem Befehl. Sie wurde erwischt und vor den König geschleppt. Dieser tobte und verurteilte Antigone zum Tode: Sie sollte lebendig begraben werden. Sein eigener Sohn
flehte um Antigones Leben, da er in sie verliebt war, aber der König blieb stur und ließ sie einmauern. Erst als ihm prophezeit wurde, dass zwei Mitglieder seiner eigenen Familie umkommen würden, wenn er Antigone nicht freiließe, änderte Kreon seine Meinung – aber es war zu spät. Antigone hatte sich mit ihrem Schleier erhängt. Kreons Sohn war so traurig, dass er sich selbst tötete, und als seine Mutter, die Königin, das erfuhr, brachte sie sich ebenfalls um.«
»Und was soll nun der gemeinsame Nenner sein?«, fragte Morell und aß ein wenig Gemüse, das, wie er zugeben musste, gar nicht einmal so übel schmeckte.
»Traurige Geschichten von unerfüllter Liebe«, sagte Capelli und erntete dafür abschätzige Blicke von beiden Männern.
»Kommen wir zum dritten Begriff«, sagte Lorentz. »Der war ziemlich knifflig.« Man konnte den Stolz in seiner Stimme nicht überhören. »Ich habe ewig lange recherchieren müssen, bis ich draufgekommen bin. Qin Shi Huang Di war der Gründer des Kaiserreichs China. Das Wort China kommt übrigens von Qin.« Manchmal konnte er diesen Drang, andere Menschen zu belehren, einfach nicht unterdrücken. »Diesem Qin verdankt China unter anderem den Bau der Chinesischen Mauer und die Vereinheitlichung des Münz- und Schriftsystems.«
»Ja, ja, schon okay«, sagte Morell. »Komm zum Punkt. Geschichte können wir ein anderes Mal lernen.«
»Schon gut, schon gut. Ich kann manchmal einfach nicht aus meiner Haut. Qin Shi Huang Di war wegen seiner Härte sehr unbeliebt. Seine Grausamkeit gipfelte darin, dass er 460 Gelehrte bei lebendigem Leibe begraben ließ, nur weil sie gegen eine Buchverbrennung demonstriert hatten.« Lorentz sah seine beiden Tischnachbarn erwartungsvoll an.
»Es geht also darum, lebendig begraben zu werden«, sagte Morell und spielte mit seiner Gabel herum.
»Genau das denke ich auch«, stimmte Lorentz zu. »Die erste
Zeile sagt uns, dass der Killer mich umbringen will, und die zweite Zeile weist darauf hin, dass es durch Begraben bei lebendigem Leib geschehen soll.«
Jetzt, wo er seinen Verdacht das erste Mal laut ausgesprochen hatte, stieg wieder Panik in ihm hoch. Die Ruhe, die er bisher bewahren konnte, war mit einem Schlag verflogen. Er starrte Morell an. »Tu endlich was, verdammt nochmal.« Seine Stimme bebte. »Während du den ganzen Tag Tee trinkst und mit Frau Leichenfledderin Essen kochst, habe ich daran gearbeitet, die zweite Zeile zu entschlüsseln.« Lorentz’ Hände zitterten. »Bin ich denn der Einzige, der hier etwas tut? Du solltest auf dem Revier sein und versuchen, den Verrückten zu schnappen!«
›Das reicht‹, dachte Capelli. Wie hatte dieser arrogante Kerl sie gerade genannt? Frau Leichenfledderin?! Und wie redete er überhaupt mit ihrem Gastgeber! Na warte. »Was meinst du dazu, Otto?«, fragte sie gespielt. »Wie fühlt es sich wohl an, lebendig begraben zu werden?«
Morell, der ebenfalls der Meinung war, dass Lorentz zu weit gegangen war und einen kleinen Dämpfer bitter nötig hatte, spielte mit. »Ich weiß nicht, aber es ist auf keinen Fall angenehm«, sagte er. »Ich habe ein Buch über Rechtsgeschichte, vielleicht steht da etwas mehr drin.«
»Ausgezeichnet«, sagte Capelli. »Nachdem unser Gast meint, dass er der Einzige ist, der arbeitet, werden wir ihm beweisen, dass wir sehr wohl willig und fähig sind, auch ein wenig zu recherchieren.«
Morell ging zum Bücherregal und suchte herum. »Da haben wir es ja«, sagte er und kam mit einem dicken Wälzer zurück an den Tisch. Er blätterte und begann vorzulesen. »Das Lebendig-begraben-Werden wurde schon im alten Rom praktiziert. Hiermit bestrafte man Priesterinnen, die gegen das Gelübde der Keuschheit verstoßen hatten.« Er sah Lorentz an und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Ha, ha, sehr
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