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Die Zahl

Die Zahl

Titel: Die Zahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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mehr spüren. Sie fühlten sich hart an, steif, blau, tiefgefroren.
    Er lag einfach nur da, bewegungslos. Konnte nichts tun, außer zu schreien, zu weinen, zu schluchzen und am Ende leise zu wimmern. Er spürte gefrorene Tränen auf seinen Wangen und vereisten Rotz in seinem Bart.
    Sehr wahrscheinlich lag er irgendwo im Schnee, denn er spürte ihn überall an seinem Körper. Im Nacken, an den Knöcheln. Die weiße Kälte drang durch jede Ritze seiner Kleidung. Seine Muskeln zogen sich zusammen, verkrampften. Verzweiflung durchströmte ihn – er würde hier draußen nicht lange überleben.
    Das Allerschlimmste war die Stille; das Alleinsein; die Einsamkeit. Er fühlte sich vergessen, verloren, abgelegt wie ein Stück Müll, ausgesetzt wie ein ungewolltes Haustier.
    Jemand hatte ihn niedergeschlagen, gefesselt und seinem Schicksal überlassen. Das einzige Geräusch, das er hören konnte, war das Klappern seiner Zähne und das Schlagen seines Herzens. Er hatte Angst. Aber wovor? Was war überhaupt geschehen? Wie spät war es? Wie lange lag er hier schon? Wer hatte ihm das angetan? Und vor allem: Warum?
    Wohlige feuchte Wärme breitete sich zwischen seinen Beinen aus. Er hatte sich in die Hosen gemacht. Bald würde sich diese Wärme in beißende Kälte verwandeln. Er schloss die Augen, versuchte ruhig zu bleiben und einen klaren Kopf zu bekommen.
    Als er sie wieder öffnete und nach oben blickte, sah er einen wunderschönen, klaren Nachthimmel. Die Sterne glitzerten, und der Mond leuchtete hell und voll. So hatte er den Himmel schon
lange nicht mehr gesehen. Links und rechts von seinem Blickfeld ragten Bäume empor, deren Wipfel sich ganz langsam und leise im Wind wiegten.
    Er empfand die Stille, die ihm noch vor wenigen Augenblicken so schreckliche Angst gemacht hatte, plötzlich als angenehm und friedlich. Er fühlte sich ruhig, dämmrig und schummrig. Er war müde, und immer öfter wurde ihm schwarz vor Augen.
    Nicht eindösen, rief eine kleine Stimme in seinem Kopf. Schlaf nicht ein, du wirst sonst erfrieren. Er wusste, dass die Stimme recht hatte, aber er wollte weg, wollte keinen Schmerz, keine Angst und keine Kälte mehr spüren.
    Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er heute sterben würde. Der Gedanke an seinen bevorstehenden Tod versetzte ihn seltsamerweise nicht in Panik. Andreas blieb ganz ruhig. Alles, was er wollte, war zu wissen, warum. Was hatte er verbrochen? Womit hatte er das verdient? Hatte er denn nicht das Recht, das zu erfahren?
    Er begann zu beten – richtig zu beten. Nicht das Herunterleiern von auswendig gelernten Versen, sondern ein Gespräch mit Gott aus dem tiefsten Inneren seines Herzens. Trotzdem bekam er keine Antwort auf seine Fragen.
     
    ...
    Die dick vermummte Gestalt sah in das Loch hinunter, in dem Andreas lag. Ein leises Wimmern war zu hören, als sie langsam begann, Erde und Schnee in die Grube zu schaufeln. »Es tut mir leid«, murmelte sie, »aber es ist besser so, glaub mir!« Das Stöhnen von unten wurde immer intensiver. »Du bist krank und ansteckend! Es ist das Beste für dich, wenn dein Leid beendet wird.« Eine weitere Schaufel voller Schnee verursachte ein dumpfes Geräusch, als sie auf den Unglückseligen traf und sein Schluchzen dämpfte.
    Der Schnee traf Andreas erst am Bauch, dann im Gesicht. Er wollte wissen, weshalb, aber er konnte die Worte nicht aussprechen, brachte nur ein Stöhnen zustande. Irgendwo sprach ein Mensch zu ihm, aber die Worte ergaben keinen Sinn.
    Er spürte plötzlich Wärme. Jemand deckte ihn zu. Hüllte ihn ein in einen Kokon aus Schnee. Er würde jetzt schlafen, ein wenig Ruhe würde ihm guttun. Er ließ los, ergab sich. Aber es war nicht der Schlaf, der zu ihm kam, sondern dessen Bruder – der Tod.
     
    ...
    Andreas’ Mörder schaufelte das Loch zu, wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, packte die Schaufel und ging langsam zu seinem Auto, das auf dem nahegelegenen Waldweg, versteckt unter den Zweigen einer großen Tanne, geparkt war. Nicht dass sich irgendwer mitten in der Nacht an diesen abgelegenen Ort verirrt hätte – aber es war nun einmal wichtig, vorsichtig zu sein und die Mission auf keinen Fall zu gefährden.

»Zwölf Jungfraun hold und minnig, zwölf Knaben zart und fein
Bekränzten ihre Häupter, kredenzten ihnen Wein.«
    Carl Spitteler, Balladen
    Die Stimmung hatte sich wieder beruhigt und die Gemüter hatten sich abgekühlt. Lorentz war nicht mehr ganz so blass um die Nase, und Capelli hatte Gnade vor Recht ergehen

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