Die Zahl
jetzt kannte das ganze Dorf jede auch noch so kleine Einzelheit. Er holte tief Luft, setzte sich aufrecht hin und wartete darauf, dass die Tür aufging.
...
Bender war gerade dabei, ein paar Aktenstapel zu ordnen, als Agnes Schubert mit einer Schachtel in der Hand die Polizeistation stürmte.
»Haaalllöööcheeen«, rief sie, wobei es aus ihrem Mund eher wie ein Kampfschrei als eine Begrüßung klang. Ein Blick auf den Eindringling bestätigte Benders Verdacht: Frau Schubert hatte Kriegsbemalung aufgetragen, sich mit viel Parfüm besprüht und ihren voluminösen Busen, trotz der draußen vorherrschenden Minusgrade, mit einem sehr tiefen Ausschnitt in Szene gesetzt.
Sie war gekommen, um zu jagen. Ihre Beute befand sich nur wenige Meter entfernt, und Bender war der Einzige, der noch zwischen ihr und dem Objekt ihrer Begierde stand.
»Halt!«, rief er tapfer, als sie einfach an ihm vorbeispazierte und direkten Kurs auf Morells Büro nahm. »Der Chef ist beschäftigt und will niemanden sehen.«
Frau Schubert starrte ihn verständnislos an. »Ich bin ja wohl nicht irgendwer«, fauchte sie ihm entgegen. »Ich habe immerhin das Mordopfer gefunden und bin somit eine wichtige Zeugin.« Das Häuflein Elend vom Sonntag hatte sich wieder in eine hormongesteuerte Sirene zurückverwandelt.
»Wenn Sie eine Aussage machen wollen, kann ich die gerne aufnehmen«, sagte Bender und zeigte auf einen freien Stuhl.
»Nein, ich muss den Herrn Kommissar persönlich sprechen. Es ist dringend.« Sie setzte ihren Marsch auf Morells Büro fort.
Bender zögerte kurz und stellte sich dann mutig zwischen Frau Schubert und die Tür zum Büro seines Vorgesetzten. »Ich habe Ihnen gesagt, dass der Chefinspektor sehr beschäftigt ist. Alles, was mit dem Fall zu tun hat, können Sie auch mit mir besprechen.«
Agnes Schuberts Busen vibrierte. Sie starrte feindselig auf den jungen Inspektor, der zwischen ihr und ihrem Angebeteten stand. Als dieser ihrem Blick nicht auswich, beschloss sie, die Strategie zu wechseln.
»Es geht nicht um den Fall. Ich muss etwas Persönliches mit dem Herrn Kommissar besprechen.« Sie schenkte Bender ein zuckersüßes Lächeln.
»Gut«, entgegnete der, »dann setzen Sie sich doch bitte auf den Stuhl da, und ich frage den Chefinspektor, ob er kurz Zeit für Sie hat.«
»Ich bin mir sicher, dass er ein paar Minuten erübrigen kann. Ich bin hier, um ihm eine kleine Stärkung zu bringen.« Sie wedelte mit der Schachtel vor Benders Nase herum und versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen.
Bender stellte sich aufrecht hin und verschränkte die Arme vor der Brust. »Schon wieder etwas zur Stärkung für den Chefinspektor? Gut, wenn Sie sich jetzt bitte kurz setzen würden. Ich sage dem Chef, dass Sie da sind.«
Dieser junge Inspektor war ein stures, kleines Kerlchen. Agnes Schubert musste tiefer in ihre Trickkiste greifen. »Hmmmm«, sagte sie und trat, sehr zu Benders Erleichterung, einen Schritt auf den ihr zugewiesenen Stuhl zu. »Die Kekse duften ja immer noch ganz wunderbar.« Sie öffnete die Schachtel und hielt sie Bender unter die Nase. »Mögen Sie auch so gerne selbst gebackene Weihnachtskekse? Hier, bitte sehr!« Sie streckte ihm das Gebäck hin.
Bender griff nach der Schachtel und sog den Duft von selbst gemachten Zimtsternen und Vanillekipferln ein. Er schob sich einen Stern in den Mund und schloss genießerisch die Augen. Das Weibsbild war wirklich eine Pest, aber backen konnte sie. Das musste man ihr lassen.
Agnes Schubert nahm sich ein Vanillekipferl aus der Schachtel und setzte sich. »Könnte ich vielleicht eine Tasse Kaffee dazu bekommen?«, fragte sie.
»Ähm, Kaffee ist leider aus, aber vielleicht möchten Sie eine Tasse Tee?«
Frau Schubert nickte. Bender drehte ihr den Rücken zu, suchte im Schränkchen nach einer Tasse und griff dann nach der Teekanne. »Die Zimtsterne sind wirklich lecker«, sagte er. »Trinken Sie Ihren Tee mit Milch und Zucker?«
Er bekam keine Antwort, sondern hörte nur, wie hinter seinem Rücken die Tür zum Chefbüro geöffnet und gleich wieder geschlossen wurde.
...
»Servus, Herr Kommissar!« Agnes Schubert betrat das Büro, lächelte Morell an und setzte sich unaufgefordert auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Servus, Frau Schu ...«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Also, ich muss schon sagen, Ihr kleiner Helfer da draußen hat überhaupt keine Manieren. Er wollte mich warten lassen. Können Sie sich das vorstellen?« Sie schüttelte den Kopf und
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