Die Zahl
witzig«, sagte Lorentz. »Du hast gut lachen. Du bist ja nicht betroffen.«
»Sie mussten in eine eigens zu diesem Zweck gebaute unterirdische Kammer steigen«, las Morell weiter. »Diese wurde dann verschlossen und die Tür mit Erde zugeschüttet. Im Mittelalter war diese Hinrichtungsart unter dem Hochadel sehr verbreitet, und zwar bei Fällen von Ehebruch und Kindesmord. Der Verurteilte musste sich in eine Mauernische setzen, die danach mit Ziegeln zugemauert wurde. Der Tod war meist qualvoll. Man verdurstete beziehungsweise verhungerte.« Morell überflog ein paar Absätze und las dann weiter. »Es gab auch andere Formen des Begrabens. So wurde der Delinquent gefesselt in eine Grube gestellt und mit Erde zugeschüttet, bis nur noch der Kopf herausragte. Eine Verschärfung der Exekution bestand darin, dem Verurteilten einen Schlauch in den Mund zu stecken und dann auch noch seinen Kopf mit Erde zu bedecken. In Italien wurde der Verurteilte mit dem Kopf nach unten lebendig eingegraben, man ließ nur die Knöchel aus der Erde schauen.«
»Das wusste ich gar nicht«, sagte Capelli und schaute Lorentz an, der plötzlich ganz still geworden war. »Sehr interessant!«
Morell fuhr fort. »Die Angst vor dem Scheintod und dem damit verbundenen Lebendig-begraben-Werden ist ein Phänomen, das in sämtlichen Kulturnationen zwischen 1750 und 1890 umging. Es gab in London sogar eine eigene ›Gesellschaft zur Verhinderung der voreiligen Begräbnisse‹. Diese Gesellschaft hat einmal eine Statistik herausgebracht.« Morell fing an zu lachen. »Weißt du, was hier steht?«, er sah Capelli an, die den Kopf schüttelte. »Im Jahr 1905 wurden zehn Menschen bei lebendigem Leib seziert.«
Capelli schenkte Morell ein Naserümpfen.
Lorentz war ganz bleich geworden, er zitterte, und auf seiner Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.
Morell hatte nun doch Mitleid. Er wollte Lorentz nur ein wenig von seinem hohen Ross herunterholen, stattdessen hatte er ihm
offensichtlich Todesangst eingejagt. »Ich glaube nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, sagte er daher versöhnlich. »Ganz sicher wollte irgendein Scherzkeks dich einmal ordentlich auf den Arm nehmen. Irgendjemand, den du früher nicht hast abschreiben lassen.« Er sah Lorentz an, der von der Theorie nicht sehr überzeugt zu sein schien.
»Vielleicht wissen wir, was hier gespielt wird, wenn wir das ganze Rätsel gelöst haben«, sagte Capelli, die ebenfalls einsah, dass sie mit ihrem Scherz ein wenig übertrieben hatten. »Ich heiße übrigens Nina«, sagte sie zu Lorentz und reichte ihm zur Aussöhnung die Hand.
»Und ich heiße Leander. Es tut mir leid, dass ich euch so angemacht habe«, entschuldigte er sich. »Ich bin einfach mit den Nerven ein bisschen runter.«
»Entschuldigung angenommen«, sagte Morell und stellte Lorentz ein kleines Glas Schnaps vor die Nase. »Trink das, dann geht es dir gleich besser.«
Lorentz nickte und kippte die klare Flüssigkeit hinunter. »Schauen wir uns also mal die dritte Zeile an.«
»Zwölf Steine über Dir! – Ei, dies und das!
Geh sag ich, geh!
Ich will nicht weiter sprechen!«
Franz Grillparzer, Ein treuer Diener seines Herrn
Auch Andreas ist krank. Er hat versucht, es zu verheimlichen, aber mir kann er nichts vormachen!
Ich kann die Fäulnis nämlich riechen, die er ausströmt. Sie dringt aus jeder einzelnen seiner Poren und verpestet die Luft. Es ist widerlich und ekelerregend, ihm dabei zuzusehen, wie er leidet. Tag für Tag, ohne Hoffnung auf Besserung.
Es ist an der Zeit, ihn zu erlösen und dafür zu sorgen, dass er niemanden mehr ansteckt und mit in sein Unglück hineinzieht.
Es ist keine angenehme Sache, aber es muss getan werden!
...
Andreas Adam schlug die Augen auf. Sein Schädel war in eine Wolke von Schmerz gehüllt.
Etwas Warmes rann von seiner Stirn in seine Augen. Blut? Instinktiv wollte er sich an den Kopf greifen, musste aber verwundert feststellen, dass das nicht ging. Er konnte seine Hände nicht bewegen. Was war passiert?
Wie ein Blitzschlag kam die Erinnerung an das, was geschehen
war. Irgendwer hatte ihn auf dem Weg nach Hause niedergeschlagen und fortgeschleift. Aber wohin?
Er glaubte, sich daran zu erinnern, dass er kurz einmal in einem dunklen, modrigen Raum zu sich gekommen war. Einem Keller? Einem Kerker? Aber wo war er jetzt? Er musste irgendwo im Freien sein, denn die Kälte war beinahe unerträglich. Seine Finger, seine Ohren und seine Zehen waren klamm, und er konnte sie kaum
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