Die Zahl
fühlte sich ertappt und war kurz davor, etwas Fieses zu sagen. Er hielt sich dann aber doch zurück, da er einsah, dass diese Sticheleien zwischen ihm und Capelli zu nichts führten. Sie vertrödelten damit nur wichtige Zeit. Er beschloss, vernünftig zu sein. »Okay, ich gebe zu, dass ich mich bei der vierten Zeile geschlagen geben muss. Ich kenne aber jemanden, der die Antwort eventuell wissen könnte.«
»Na, dann ran ans Telefon!«, sagte Capelli und drückte ihm sein Handy in die Hand, das auf dem Tisch gelegen hatte. Lorentz wählte die Nummer des Archäologischen Instituts der Universität Wien.
»Martin Frisch ist Professor für Antikenforschung«, erzählte er Capelli, während er darauf wartete, dass jemand abhob. »Es ist zwar Samstag, aber vielleicht ... Martin? Hallo? Kannst du mich hören? Hier ist Leander Lorentz. Ja, die Verbindung ist schlecht, aber es ist dringend!«
Lorentz stellte sich direkt ans Fenster, in der Hoffnung, dort einen besseren Empfang zu haben.
»Was sagen dir die Namen Leonidas, Astylos und Koroibos?« Ein paar Minuten lang sagte Lorentz nichts, sondern nickte nur. »Echt? Aha! Ist gut! Vielen Dank, ich schulde dir ein Bier! Ciao, Martin.« Er legte auf und setzte sich wieder auf die Couch. »Ich bin ein Idiot«, sagte er und klatschte sich auf die Stirn. »Ich habe an den falschen Leonidas gedacht!«
»Habe ich doch gesagt!«
Lorentz ignorierte sie.
»Leonidas von Rhodos war anscheinend einer der berühmtesten griechischen Athleten. Laut Martin gelangen ihm zwölf Olympiasiege.«
»Oh nein«, jammerte Capelli. »Schon wieder zwölf!«
»Die Gemeinsamkeit ist tatsächlich die Olympiade, aber was hat das mit unserem Rätsel zu tun? Der Tod, lebendig begraben werden und ein Wald passen ja noch irgendwie zusammen, aber was ist mit den Olympischen Spielen?« Er kratzte sich am Kopf.
»Ich weiß auch nicht. Am besten rufen wir mal bei Otto an und sagen ihm Bescheid. Vielleicht kann er ja etwas damit anfangen.«
»Ist okay.« Lorentz begann hektisch seine Bücher wieder einzupacken. »Ähm, kannst du das übernehmen? Ich muss nämlich dringend los. Ich habe heute noch was Wichtiges vor. Ruf mich an, wenn sich was tut, ja?«
Er musste sich beeilen, denn er wollte Iris nicht warten lassen.
»Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter,
eine immer schöner als die andere.«
Gebrüder Grimm, Die zertanzten Schuhe
Nachdem Lorentz gegangen war, wusch sich Capelli im Badezimmer die letzten Reste ihres Schminkunfalls vom Gesicht, nahm die Kontaktlinsen heraus und setzte ihre Brille auf. »Fühlt sich doch schon gleich viel besser an«, sagte sie und schloss die Augen.
Wie war sie nur auf die hirnrissige Idee gekommen, sich für Lorentz aufzubrezeln? Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Was hatte sie erwartet? Dass er sie beachten, nicht mehr ignorieren und sie mit ein wenig mehr Respekt behandeln würde? Warum wurde sie im Laufe der Zeit nur nicht klüger? Sie war wütend auf sich selbst. Sie hatte tatsächlich versucht, sich mit Kontaktlinsen und Wimperntusche ein wenig Anerkennung zu verschaffen.
Nun gut, sie war freilich keine Schönheitskönigin, aber sie hatte andere Dinge zu bieten. Wenn Lorentz das nicht sah, dann war er selber schuld. Sie zuckte mit den Achseln. Warum wollte sie überhaupt von ihm beachtet werden? Sie kannte diese Art von Männern doch nur zu gut.
Lorentz war ein Filou, und daran würde weder sie noch sonst eine Frau etwas ändern können. Sie würde also keinen Gedanken
mehr an sein hübsches Gesicht und seinen gut gebauten Körper verschwenden. »Gut, dass wir das geklärt haben«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und warf sich selbst eine Kusshand zu.
Da sie ein wenig Zeit totschlagen wollte, beschloss sie, Morell nicht anzurufen, sondern persönlich bei ihm im Revier vorbeizuschauen. Draußen war strahlender Sonnenschein, und ein kleiner Spaziergang würde ihr guttun.
Landau präsentierte sich heute wirklich von seiner besten Seite. Der Schnee glitzerte im Sonnenlicht, und in einigen Gärten hatten Kinder Schneemänner in allen möglichen Größen und Formen gebaut. An vielen Fenstern und Türen hing Weihnachtsschmuck, und die Luft war klar und rein.
Der Ort wirkte wie ein idyllisches Postkartenmotiv und verströmte eine friedliche, verschlafene Aura. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, dann wäre Capelli niemals auf die Idee gekommen, dass in dieser malerischen Umgebung so ein grausamer Mord geschehen war.
Sie
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