Die Zahlen Der Toten
der Bach ist.«
John erkannte etwas, das wie ein Müllsack aussah, der von streunenden Hunden aufgerissen worden war.
Kate eilte den Wall hinunter und weiter über gefrorene Erdhubbel, die Arme zum Balancieren seitlich ausgestreckt. John folgte ihr, den Blick auf das Ding im Schnee geheftet.
»Achten Sie auf Spuren.«
Sie stapften durch eine tiefe Schneewehe und blieben dann wie von Geisterhand aufgehalten abrupt stehen. Über die Jahre war John schon an vielen Tatorten gewesen. Er hatte Menschen gesehen, die eines natürlichen Todes gestorben waren, und andere, die so verstümmelt und blutig aus dieser Welt geschieden waren, dass selbst altgediente Polizisten in die Knie gegangen waren und sich übergeben hatten. Er kannte den akkuraten, brutalen Exekutionsstil von Drogenhändlern, die unbedingt ein Zeichen setzen wollten. Er hatte unschuldige Kinder im Schussfeuer von Bandenkriegen sterben sehen und getötete Babys, die wie Müll weggeworfen worden waren. Doch auf das, was er jetzt vor Augen hatte, war er nicht vorbereitet.
Die Tote lag neben einem Müllsack. John sah bleiches, blutverschmiertes Fleisch. Einen braunen Haarschopf. Den toten Blick wie bei Glasaugen von ausgestopften Tieren. Der Mund zu einem lautlosen Schrei verzerrt. Überall war Blut, ein furchtbarer Kontrast zu dem weißen Schnee. Im Umkreis von einem Meter lagen mehrere rosa Gegenstände um die Leiche. Im ersten Moment dachte er, es seien Kleiderfetzen, und ordnete sie sofort als mögliche Beweisstücke ein. Doch dann sah er, dass es Organe aus dem Unterleib des Opfers waren.
Und andere Körperteile, einfach abgeschnitten: ein Stück Brust, ein Finger, drei Meter weit weg von dem ausgestreckten Arm. Rosa-grauer Darm, aus dem eine rotgrüne Flüssigkeit in den Schnee sickerte. Er hatte sie ausgeweidet.
»O mein Gott.«
Kate stand neben ihm, schwer atmend wie nach einem Marathon. Ein Laut, halb Keuchen, halb Stöhnen, entwich ihrem Mund. John wusste, dass der gleiche Laut in seinem Inneren widerhallte, ein Ausdruck von Wut und Schock zusammengeballt in einer einzigen Emotion. Er zwang sich, das Ganze nüchtern zu betrachten, doch vergeblich. Denn das, was er hier vor Augen hatte, trug ihn in Gedanken zurück zu jenem Tag, an dem er Nancy und seine Töchter gefunden hatte. Er sah kohlschwarze Körper, groteske Klauenhände. Er roch verbranntes Fleisch, versengtes Haar …
»Irgendeine Spur des Verdächtigen?«
Kates Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. Sie sprach in ihr Funkmikro, den Blick auf Tomasetti gerichtet, doch ohne ihn wirklich zu sehen. »Rufen Sie das Sheriffbüro an. Sagen Sie, wir brauchen jeden Mann, den sie entbehren können. Ich will, dass die ganze Umgebung abgesperrt wird. Und schicken Sie Coblentz her. Er soll alles stehen und liegen lassen und sofort kommen.«
Ihre Hand glitt vom Mikro, und einen Moment lang schloss sie die Augen. »Gottverdammte Scheiße.«
»Erkennen Sie sie?«, fragte er.
»Nein«, sagte sie. »Mein Gott, woran denn?«
Er machte jenen ersten, gefahrvollen Schritt auf die Tote zu. Der Geruch von Blut hing in der Luft. Das Opfer war vom Brustbein bis zum Schambein aufgeschnitten worden. Verschiedene Organe quollen aus der Öffnung, es dampfte aus dem blutigen Inneren und John wusste, dass diese Frau noch vor kurzem gelebt hatte.
»Das ist eine enorme Eskalation.« Sein Herz hämmerte, sein Blut rauschte durch seine Adern. Er wollte den Zustand aufs Laufen schieben, doch er wusste, dass nackte Todesangst seinen Körper erfasst hatte. Und da erst wurde ihm klar, wie groß sein Bedürfnis war zu leben.
Ein Tatort im Freien war immer problematisch. Doch die Kälte und der Schnee und die ungeheuerliche Brutalität machten diesen zu einem einzigen Albtraum.
»Chief!«
John blickte zu dem zwanzig Meter entfernten Erdwall, den T. J. gerade herunterkam. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Kate ganz tief durchatmete und ihrem Officer ein paar Schritte entgegenging.
»Er hat noch eine Frau getötet«, sagte sie.
T. J. blickte zu der Leiche und schnell wieder weg. »O Mann, o mein Gott.«
»Ich folge der Kufenspur«, sagte John zu ihm. »Sie beide bleiben hier und sichern den Tatort, bis die Leute von der Spurensicherung –«
»Ich komme mit«, unterbrach Kate ihn scharf.
»Ich würde lieber –«
»Vergessen Sie’s.« Sie zog ihre Waffe und ging Richtung Wald.
»Scheiße.« John schüttelte den Kopf, nickte T. J. zu und lief hinter ihr her.
Sie folgten der Spur des Schneemobils in den
Weitere Kostenlose Bücher