Die Zarentochter
Ansichten zur Welt im Allgemeinen und im Besonderen teilte Olly nicht immer. Sie spürte in solchen Augenblicken eine leise Ungeduld in sich aufsteigen, und sie bewunderte Adini für das langmütige Lächeln, das sie Friedrich stets schenkte. Er und Olly – eine Schnapsidee war das Ganze gewesen, mehr nicht.
Außerdem gab es eine neue Entwicklung. Stephan hatte tatsächlich die Einladung zu Adinis Hochzeit angenommen. Nach vier Jahren würde sie endlich den Mann kennenlernen, mit dem sie sich verlobt fühlte. Olly traute sich kaum, daran zu glauben. Würde am Ende doch noch alles gut werden? Im Geiste malte sie sich immer wieder aus, wie sie sich das erste Mal gegenüberstünden und lachen würden angesichts der Schwierigkeiten, die ihr Zusammentreffen bereitet hatte.
»Endlich«, würde Stephan flüstern. Und er würde ihre Hand nehmen, sie küssen und ihr tief in die Augen schauen. So tief und so lange, dass die Umstehenden sich nervös zu räuspern begannen. Erst da würde Stephan aufmerken und etwas in die Runde sagen wie: »Wer kann es mir verdenken? Wo wir doch die verlorene Zeit wettmachen müssen …« Und alle würden ihnen, den Königskindern, die endlich zueinanderfanden, applaudieren.
Danach würde alles ganz schnell gehen. Mindestens so schnell wie bei Adini und Friedrich: die Verlobung, bald darauf die Hochzeit und dann ein Neuanfang in Ungarn, Österreich oder am besten gleich in Prag. Auf alle Fälle weitab von St. Petersburg mit all seinem Klatsch, seinen Neidern und Intrigen – das war es, wonach sich Olly am allermeisten sehnte.
Vorsichtig schaute sich Adini um. Da auf dem Gang vor ihrem Zimmer weit und breit niemand zu sehen war, winkte sie Olly herein.
»Willst du mir nicht endlich sagen, was diese Geheimniskrämerei soll?«, fragte Olly halb amüsiert, halb gereizt.
Eswar der fünfzehnte Januar, der Tag vor Adinis Hochzeit. Jeden Moment konnte Stephan ankommen. Olly hatte eigentlich vorgehabt, von einem zum Haupteingang ausgerichteten Fenster aus einen ersten heimlichen Blick auf ihren Zukünftigen zu werfen. Doch statt an ihrem Späherplatz ausharren zu können, schleppte Adini sie nun in ihr Zimmer.
»Setz dich am besten in diesen Sessel«, wies Adini sie an, dann trat sie an eine Staffelei. »Schau mal!« Mit großer Geste enthüllte sie unter weißen Tüchern ein riesiges Aquarellgemälde. »Friedrichs Hochzeitsgeschenk, glaubst du, es wird ihm gefallen? Es soll einmal im Salon des Palastes hängen, der in Kopenhagen gerade für uns hergerichtet wird.«
Schweigend betrachtete Olly das Bild, für das Adini der englischen Malerin Christina Robertson in den letzten Wochen Modell gestanden hatte. Es zeigte sie in einem rosafarbenen Seidenkleid mit enthüllter Schulterpartie. Die Schwester hatte ihren Kopf zur Seite geneigt, was ihr edles Profil wirkungsvoll zur Geltung brachte. Adinis Porträt wurde von einem ovalen Säulengang eingerahmt, in dessen Hintergrund ein blauer Himmel mit Schleierwolken zu sehen war, der Adinis Schönheit noch untermalte.
»Du bist wunderschön«, murmelte Olly aufrichtig. Schmunzelnd zeigte sie auf Grand Folie, der zu Adinis Füßen abgebildet war. »Aber musste das wirklich sein?«
»Was hätten wir denn tun sollen?«, antwortete Adini mit übertrieben tragischem Gesichtsausdruck. »Dein Hündchen ist ja ständig in unsere Malsitzungen geplatzt, irgendwann hat Mrs Robertson beschlossen, dass es einfacher wäre, ihn mit aufs Bild zu nehmen, statt ihn immer wieder wegzujagen.«
Im nächsten Moment war Adini bei Olly, kniete neben ihrem Sessel nieder, nahm ihre Hand.
»Ach Olly, ich danke dir tausendmal, dass du uns deinen Segen gegeben hast. Ich hätte es nicht ertragen, wärst du mir weiter gram gewesen.«
»Ich auch nicht«, flüsterte Olly.
»Das werde ich dir nie vergessen.« Adini sprang auf und zog Olly vomSessel hoch. »Ich bin die glücklichste Frau der Welt! Eine eigene Familie – endlich wird mein Traum wahr … Und du wirst auch bald genauso glücklich sein, jetzt, da Stephan endlich kommt.«
Ausgelassen tanzten die beiden durch den Raum. Weder Olly noch Adini hörten das zaghafte Türklopfen. Erst als ihre Mutter in der Tür stand, hielten sie in ihrem Freudentanz inne.
»Mutter, was ist los? Sie sind kreidebleich!«, sagte Olly. Schon verspürte sie ein erstes Rumoren im Bauch. Sie vermochte sich nicht dar an zu erinnern, wann ihre Mutter das letzte Mal eines der Mädchenzimmer aufgesucht hatte. Dieser Besuch konnte daher nichts Gutes
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