Die Zarentochter
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Geistesabwesend folgte Olly der Unterhaltung der Eheleute. Wie blass Adini heute wieder war. Die gute Landluft, die ihr von den Hofärzten empfohlen worden war, schien ihren Zweck zu verfehlen: Adini wurde von Tag zu Tag hohlwangiger, sie hatte keinen Appetit und nahm nur winzige Häppchen zu sich.
Wenn sie Nacht für Nacht von dreißig, vierzig Hustenanfällen geplagt würde, wäre sie gewiss auch zu erschöpft zum Essen, dachte Olly wütend. Warum fand niemand ein Mittel, um Adinis elenden Husten endlich zu stillen? Warum gab es außer heißer Milch nichts, was den Schmerz in ihrer Brust linderte? Warum fiel den Ärzten nichts anderes ein, als Adini unzählige Gläser kaltes Wasser gegen ihre Erstickungsanfälle aufzuzwingen?
Galoppierende Schwindsucht. Keinerlei Hoffnung auf Genesung. Jedes Wort ein Stich ins Herz.
Die Ärzte mussten falschliegen, dachte Olly zum tausendsten Mal. Wie hatten sie die Familie mit solch einer Diagnose nur so erschrecken können. Vater hatte völlig recht gehabt, sie hinauszuwerfen. Einzig Dr. Scholtz durfte bleiben, er war als Geburtshelfer für die Niederkunft der Schwangeren in drei Monaten vorgesehen. Noch gute drei Monate … Und dann die Geburt. Würde Adinis Kraft so lange ausreichen? Der Gedanke brachte Olly fast um.
Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft lächelte sie Friedrich und Adini an, dann verließ sie die Terrasse unter dem Vorwand, sich eine Jacke holen zu wollen.
Sie war gerade auf dem Weg in die Küche, als ihr Anna entgegenkam. Die Hofdame trug einen schmutzigen Beutel bei sich.
Auf Ollys Gesicht breitete sich das erste echte Lächeln seit Tagen aus. »Sag bloß, die Heilerin hat dir doch noch ein Mittel mitgegeben?«
»EinTee aus allerlei Kräutern. Spitzwegerich, Salbei, Wermut, Angelika, Lungenkraut –«
»Lungenkraut? Das hört sich gut an! Darf ich mal sehen?«
Anna öffnete den fleckigen Leinenbeutel und hob eine Handvoll der graugrünen Kräuter so andächtig an, als wären sie reines Gold. »Die Heilerin meinte, man könne die Kräuter auch in Wein oder Essig einlegen und der Kranken davon täglich ein paar Schnapsgläser geben.«
Die Erleichterung, die Olly angesichts dieser Worte verspürte, war so groß, dass ihre Knie weich wurden. Wenn es sogar mehrere Möglichkeiten gab, die Kräuter anzuwenden, dann waren sie bestimmt sehr wirkungsvoll.
Froheren Herzens als zuvor gingen sie in die Küche, um den neuen Tee von der Köchin zubereiten zu lassen.
Seit Januar war Adini nun schon krank. Eine Erkältung, nicht unüblich im Winter, hatten die drei Leibärzte der Zarenfamilie ein hellig beschieden, so wie sie stets ein einstimmiges Urteil abgaben. Dr. Mandt, den Olly nicht leiden konnte, hatte der Kranken drei Wochen Bettruhe in einem abgedunkelten Raum verordnet. Adini hatte dagegen heftig protestiert. Auch einer der anderen Ärzte brachte zaghaft den Einwand vor, ob ein Aufenthalt in wärmeren Gefilden nicht dienlicher wäre. Auf den herrischen Blick Mandts hin war der junge Arzt jedoch verstummt.
Eingesperrt in den feuchtkalten Räumen des Winterpalastes, hatte Adini zu husten begonnen. Immer neue Fieberschübe schwächten ihren Körper.
Es war schon Frühjahr gewesen, die Stadt hatte unter den all jährlichen Überschwemmungen gelitten, als Mandt seiner ersten Diagnose eine zweite hinzufügte: die Lunge. Galoppierende Schwindsucht. Nicht unüblich bei jungen Damen hohen Adels. Leider.
Die Ärzte waren daraufhin entlassen worden, andere, aus Moskau, wurden einbestellt. Ihre niederschmetternde Diagnose war dieselbe. Aussicht auf Heilung versprach niemand. Ein Wundermittel hatteauch keiner. Von Monat zu Monat verlor Adini mehr an Kraft, ohne dass jemand dies aufhalten konnte.
Doch bei einem Waldspaziergang war Olly plötzlich eine Idee gekommen: Heilende Kräuter, die seit Jahrtausenden auf russischer Erde wuchsen – vielleicht hatten sie die Macht, Adini zu neuem Leben zu verhelfen? Weder ihr Vater noch ihre Mutter hätten solche bäuerlichen Methoden gutgeheißen, deshalb hatte Olly Anna in aller Heimlichkeit auf die Suche nach einer kräuterkundigen Frau geschickt.
Vor ein paar Tagen hatte ein Gutsverwalter der Hofdame schließlich einen Hinweis gegeben. Ja, es gäbe in der Nähe eine heilkundige Babuschka, zu ihr ging, wer ein Zipperlein oder mehr hatte. Anna hatte die Frau sogleich aufgesucht. Als diese allerdings hörte, für wen das Heilmittel sein sollte, hatte sie schlichtweg abgelehnt. Am Ende hieße es noch, sie
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