Die Zarentochter
rief nach Dr. Scholtz und der Hebamme. Die ersten Wehen!, bestätigten beide mit sorgenvoller Miene. Viel zu früh.
Olly bat Anna, sofort den Priester Bajanow zu wecken.
Ein Blick in Adinis Gesicht reichte, und der Priester verzichtete darauf, ihr die Beichte abzunehmen. Im gelblich blassen Kerzenlicht erteilte er ihr gleich die Absolution.
Doch Adinis Körper bäumte sich ein letztes Mal auf. Am Morgen gebar sie einen winzigen Jungen, den Bajanow auf den Namen Friedrich Wilhelm Nikolaus taufte.
Der Junge lebte einen halben Tag. Adini folgte ihm wenige Stunden später in den Tod.
Ihr Kind im Arm, ein erschöpftes Lächeln auf dem Gesicht, wurde Adini in der Kapelle des Alexanderpalastes aufgebahrt. Mutter und Kind wurden von einem Meer aus Blumen umflutet.
Olly legte eine einzelne weiße Rose dazu.
24. KAPITEL
Zarskoje Selo, August 1845
W ie still es hier war. Kniend, die Hände zum Gebet gefaltet, versuchte Olly, irgendein Geräusch zu hören. Einen Vogel. Ein Rufen oder ein Lachen. Ein Türschlagen oder ein Topf, der in der Küche scheppernd zu Boden fiel. Sie gab ihre kniende Haltung auf und setzte sich zurück auf die Kirchenbank. Nicht einmal deren Holz knarzte bei dieser Bewegung.
Ollys Blick wanderte durch den Raum, in dem außer einem überlebensgroßen Porträt von Adini nur noch ein kleiner Altar stand, der von Blumenbuketts in zwei Bodenvasen gesäumt wurde.
War das Zimmer vor seiner Umwandlung in Adinis Gedenkkapelle auch schon so still gewesen? Olly konnte sich nicht daran erinnern, sie hatte das ehemalige Blaue Arbeitszimmer ihres Onkels Alexander I. nur selten aufgesucht.
Totenstille ringsum. Oder kam die Stille aus ihrem Inneren?
Seit Adinis Tod fühlte sich Olly leer und ausgebrannt. Mit Mühe schleppte sie sich durch die Tage. Malen, Musizieren, Lesen – für nichts konnte sie ernsthaftes Interesse aufbringen. Selbst ihre wohltätigen Unternehmungen verrichtete sie ohne innere Beteiligung. Einzig wenn sie bei Mary oder Cerise war, umringt von deren wachsender Kinderschar, fühlte sie so etwas wie Leben in sich.
»Ach Adini, du fehlst mir so …« Sie schloss die Augen, versuchte zu beten. Doch statt sich in tröstlichen Bibelworten zu verlieren, wanderten Ollys Gedanken weit, weit zurück.
Eswar der Sommer 1838 gewesen … Ein heißer Sommer, getränkt vom Fliederduft. Mary, Adini und sie allein im Landhaus … Kühle Laken, tausend Schnakenstiche, nächtliches Getuschel, das berauschende Gefühl der Freiheit, und ein pausbackiger Mond lachte dazu.
»Was meint ihr – werden wir je einen schöneren Sommer verbringen?« Das hatte sie gesagt, mit einem Kloß im Hals.
Mary hatte Adini und sie an der Hand genommen, zu dritt bildeten sie einen Kreis. »Niemals, nie in unserem ganzen Leben werden wir diesen Sommer vergessen!«
Und mit diesem Schwur waren sie eingeschlafen.
Olly schlug die Augen auf, schaute die überlebensgroße Adini an. Wenigstens blieben die schönen Erinnerungen.
Auf dem ovalen Platz vor dem Katharinenpalast kam ihr Sascha entgegen. Vorn am großen schmiedeeisernen Tor sah sie ihre Mutter stehen, daneben Anna, umringt von einem Kreis Hofdamen und geschäftig wirkender Herren.
»Und, bist du bereit für die Abreise?« Zärtlich legte Sascha einen Arm um ihre Schulter. Eng umschlungen gingen sie über den weißen knirschenden Kies.
»Ohne Adini habe ich an nichts mehr Freude«, sagte sie mutlos. »Mit ihr ist auch ein Teil von mir gestorben.« Friedrich ging es nicht anders, dachte sie bei sich. Der Witwer war anlässlich Adinis Todestages nach Russland gekommen. Doch sofort nach dem Gedenkgottesdienst war er hastig und mit hängendem Kopf wieder abgereist. Olly hatte das Gefühl, er verstand noch immer nicht, was ihm widerfahren war.
»So schlimm ist es noch immer?«, sagte Sascha. »Es wird wirklich Zeit, dass du zurück ins Leben findest.«
»Gibt es etwa Gesetze, die vorschreiben, wie lange es sich ziemt zu trauern?« Abrupt blieb Olly stehen, wollte mehr sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. Im Gleichschritt gingen sie weiter auf das Tor zu.
»Ichfühle mich innerlich so leer. Und jetzt soll ich auch noch Mutter auf diese Reise begleiten, ihr eine Stütze sein. Dabei weiß ich selbst nicht, woher ich die Kraft zum Leben nehmen soll. Ganz davon abgesehen befürchte ich, dass die lange Reise für Mutter mit ihrem schwachen Herzen eine ernsthafte Gefahr darstellt. Ich frage mich, warum wir durch die halbe Welt reisen, statt hierzubleiben und zu
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