Die Zarentochter
Zimmermädchen, das seine Herrschaft belauschte, an der Tür zu stehen. Aber als sie ihren Vater bei seiner Ankunft angefleht hatte, ihr haarklein zu erzählen, was in Wien vorgefallen war, hatte er abgewinkt. Sie solle froh über den Verlauf der Dinge sein und ihn nicht wegen sinnloser Details löchern. Jedes weitere Wort sei unnötig.
Nikolaus fuhr herum, ein eisiges Glimmen im Blick. »Glaube mir, ich habe die Österreicher deutlich spüren lassen, dass wir miteinander fertig sind. Mit meiner ganzen Art, mit jeder Geste, mit jedem Wort habe ich’s denen gezeigt.«
»Daran zweifle ich keinen Moment.« Die Zarin seufzte. »Aber unserer Tochter hilft das leider gar nicht weiter.«
Laut polternd flüchtete Olly die Treppe hinauf in ihr Zimmer.
Normalerweise genoss Anna es, gemächlich in den ersten Tag eines Jahres hineinzugleiten. Die Feierlichkeiten zum Jahreswechsel waren meist lang und anstrengend, da war es keine Schande, erst am Nachmittag das Bett zu verlassen, um einen ersten vorsichtigen Blick auf das neue Jahr zu riskieren.
Am ersten Januar 1846 war Anna jedoch schon beim Morgengrauen wach. Nachdem sie sich angezogen hatte, warf sie einen Blick ins Nebenzimmer, wo Olly endlich, nach stundenlangem Weinen, eingeschlafen war.
Selbstmit den Tränen kämpfend, schlang Anna ihr Tuch fester um die Schultern, dann lief sie hinaus in den Garten. Luft! Sie brauchte Luft, hätte es keinen Moment länger in der Beengtheit der Villa ausgehalten.
Es war empfindlich kühl. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um über die Wipfel der hohen Palmen zu gelangen. Eine Gänsehaut kroch über Annas Rücken, dennoch inhalierte sie dankbar die kristallklare, frische Luft. Sie brauchte dringend einen klaren Kopf! Doch statt klarer Gedanken überfiel Anna eine wütende Ohnmacht, wie sie noch keine gekannt hatte.
Lieber Gott, warum hast du nicht endlich ein Erbarmen?
Sie reckte eine Faust gen Himmel, als wollte sie dem Allmächtigen drohen. Ach, sie war so zornig!
Wie sollte sie Olly später aufmuntern? Was sollte sie ihr zum Trost sagen? Dass alles gut werden würde? Dass das neue Jahr neue Chancen böte? Dass die neue Entwicklung vielleicht zum Besten wäre? Dass nach Regentagen auch wieder die Sonne schiene?
Anna schnaubte. Mit solchen Plattitüden wollte sie ihrem am Boden zerstörten Zögling nicht kommen.
Annas Blick wanderte in Richtung Haus. Die Fensterläden des Zarenschlafzimmers waren noch geschlossen. Nachdem auch Nikolaus die halbe Nacht unruhig durch die Villa gegeistert war, schlief er nun bestimmt den Schlaf der Gerechten.
Auf ihn war Anna am wütendsten. Warum hatte er Olly nicht von Angesicht zu Angesicht die Gründe seines Scheiterns dargelegt? Vielleicht wäre es ihr nach einem solchen Gespräch gelungen, einen Hauch von Würde zu bewahren. Stattdessen hatte er sie wie einen seiner Lakaien weggeschickt, die Silvesterfeier abgeblasen und sich mit seiner Gattin im Salon verbarrikadiert. Und Olly hatte als Lauscherin an der Tür die Wahrheit erfahren müssen.
Die Wahrheit … Dass jemand es wagte, dem Herrscher des mächtigen Russischen Reiches einen Korb zu geben, war für Nikolaus unfassbar. In seinem verletzten Stolz erkannte er nicht, wie sehr seine Tochter litt. Alles hätte Anna gegeben, hätte sie ihrem Zögling den gestrigen Abend ersparen können!
Alswäre das alles nicht schon schlimm genug gewesen, stand heute auch noch der überfallartige Besuch des württembergischen Prinzen an. Anna verstand nicht, wie das Zarenpaar seiner Tochter dies zumuten konnte. Hatten die Eltern denn kein Herz? Ratlos unterbrach sie ihren morgendlichen Spaziergang, schaute hinaus aufs Meer, das so blau wie eh und je glänzte.
Sollte sie einfach mit Olly in die Berge fahren? Ein Ausflug am Neujahrstag, war das nicht das Normalste der Welt? Wenn sie sich beeilte … Wenn das Zarenpaar aufwachte, wären sie längst fort. Irgendwie würde sie Zarin Alexandra ihre Abwesenheit schon erklären können.
»Der württembergische Prinz war da? Verzeihen Sie, Hoheit, seinen Besuch hatte ich ganz vergessen.«
Warum ließ man Olly nicht Zeit, ihre Wunden zu lecken? Zeit, Luft zu holen. Zeit, über die Schmach hinwegzukommen.
Offenbar hatte der Zar den württembergischen Prinzen schon vor einigen Wochen in Venedig getroffen, um ihn in Augenschein zu nehmen. Der junge Mann habe einen guten Eindruck auf ihn gemacht, hatte die Zarin kurz vor dem Schlafengehen zu Anna gesagt. Ihrem Mann wäre viel daran gelegen, dass auch Olly
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