Die Zarentochter
bewachten und abschirmten. Aber in diesem Winter erlaubte Mrs Brown Adini sogar, Charlottes abendlicher Bibelstunde beizuwohnen. Dabei entwickelten die Schwestern eine Art Spiel, bei dem täglich eine von ihnen blind die Bibel aufschlug. Mit Charlottes Hilfe versuchten sie dann voller Begeisterung, die jeweilige Stelle zu deuten. Mary hätte sie gewiss langweilige Betschwestern geheißen.
An manchen Abenden fand Olly Trost in der Heiligen Schrift, dann schlief sie traumlos und tief. In anderen Nächten wachte sie schweißnass vor Angst auf, weil schwarze Hengste durch ihre Träume galoppierten. Schlimmernoch war es, wenn sie hinter daumendicken Brillengläsern Mischas tote Augen sah.
Mischa, der nur aus einem Grund hatte sterben müssen: weil seine Familie zu arm war, um sich einen Arzt leisten zu können. Der Gedanke, dass einer der Ärzte, die sich scharenweise um ihr eigenes Krankenbett versammelt hatten, dem Bootsjungen wahrscheinlich hätte helfen können, brach Ollys Herz. Mehrmals versuchte sie mit Charlotte und Adini über Mischas Tod zu sprechen, aber weder ihre Schwester noch die Gouvernante erkannten die himmelschreiende Ungerechtigkeit in dieser Angelegenheit. Und sie verstanden Ollys tiefen Groll nicht. »Das ist der Lauf der Dinge«, sagte Adini nur. Und Charlotte meinte, dass man am besten gar nicht anfing, über solche Dinge nachzudenken, weil man eh nichts daran ändern könne. Olly war sich da nicht so sicher. Der Lauf der Dinge? Lag es nicht an ihnen, diesen aufzuhalten? Oder in andere Bahnen zu lenken? War dies nicht sogar ihre von Gott auferlegte Pflicht? Immerhin waren sie die Romanows. Je länger sie über solche Fragen nachdachte, desto größer wurde ihr Wunsch, etwas für arme und bedürftige Menschen tun zu können. Dass ihr ausgerechnet die Abwesenheit ihrer Mutter eine Chance dazu bieten würde, hätte sie allerdings nicht gedacht. Es war eine Bemerkung von Charlotte, eher nebensächlich hervorgebracht, die den Stein ins Rollen brachte.
»Dieses Jahr scheint der Winter die armen Menschen besonders hart zu treffen. Überall lungern sie herum und betteln. Was für ein Jammer, dass die Zarin nicht hier ist, um wie jedes Jahr die Armen an Weihnachten zu beschenken«, sagte die Gouvernante zu Olly bei ihrer Rückkehr von einem Teehausbesuch. Im ersten Moment reagierte Olly nicht darauf, doch als sie am Abend im Bett lag, ging ihr Charlottes Bemerkung wieder durch den Sinn. Musste die »Armenweihnacht«, wie ihre Mutter ihr alljährliches Ritual nannte, zwingend ausfallen? Was wäre, wenn sie anstelle der Zarin die Armenhäuser der Stadt besuchte? Sie würde Decken, Kleider und Süßigkeiten an die Bedürftigen verteilen und somit die größte Not lindern. Ein wenig den Lauf der Dinge ändern. Vielleicht würde Adini mitkommen?
MehrereBriefe wanderten zwischen St. Petersburg und Berlin hin und her, dann bekam Olly endlich die Erlaubnis, zum Weihnachtsfest Anfang des Jahres 1835 an die Stelle ihrer Mutter treten zu dürfen. Gemeinsam mit Charlotte, Adini und Mrs Brown machte sie sich auf den Weg, wie sonst die Mutter hatten auch sie warme Kleidung, Lebensmittel und Spielzeug für die Kinder dabei.
Bei den Schwestern hinterließ der Ausflug in die schlecht geheizten, stinkenden und hoffnungslos überfüllten Armenhäuser großen Eindruck. Dass es so viele Arme gab, hätten sie nicht gedacht. Woher kamen sie nur? Und wie hoffnungslos die Menschen dreinschauten! Schlimmer noch waren allerdings die, die gar nicht mehr sehen konnten, sondern blind waren. Oder verkrüppelt. Manch einer war nicht älter als Olly oder Adini selbst. Während Olly an die ausgezehrten Kinder mit den hageren, viel zu großen Schädeln Holzpferdchen und Puppen verteilte, fragte sie sich stumm, ob ein paar Säcke Kartoffeln mehr nicht hilfreicher gewesen wären. Doch dann sah sie die ehrfürchtigen Blicke, mit denen die Kinder ihre Spielzeuge bedachten – die meisten von ihnen hatten noch nie in ihrem Leben eine Puppe besessen.
Die erschütterte Adini war froh, dass ihre Mutter im nächsten Jahr die Armenweihnacht wieder selbst übernehmen würde, sie hatte nicht vor, nochmals mitzugehen! Olly hingegen durchforstete ihren Kleiderschrank nach Stücken, die sie bei nächster Gelegenheit an Bedürftige weitergeben konnte.
Bei Tisch langte sie weniger herzhaft zu als bisher, gerade so, als habe sie angesichts der dargebotenen Köstlichkeiten ein schlechtes Gewissen, nun da sie wusste, wie mager die Tafel anderswo gedeckt
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