Die Zarentochter
wäre das Beste zu warten …«
Stirnrunzelnd schaute Olly von einer Frau zur anderen. » Was weiß ich noch nicht?«
»Ach, hier seid ihr alle – das hätte ich mir ja denken können.«
Ruckartig drehten sich alle Köpfe zur Tür. Niemand hatte den Zaren kommen hören. Er trug den Duft von Leder in den Raum.
»Olly, liebes Kind, geht es dir besser?«
»Ja, aber –« Olly brach ab, als sie sah, dass Alexandra hektisch einen Zeigefinger auf ihren Mund legte.
»Nikolaus, mein Liebster! Gefalle ich dir?« Kokett lächelte sie ihren Mann im Spiegel an.
»Ist das wieder einmal Pariser Chic?«, gab Nikolaus stirnrunzelnd zurück.
»Nein, dieses Kleid habe ich in Berlin machen lassen, als ich Vater das letzte Mal besucht habe. Meine Schwestern haben eine neue Schneiderwerkstatt ausgekundschaftet, die –«
Mit einer Handbewegung unterbrach der Zar seine Frau. »Muss die russische Zarin ihre Kleider ausgerechnet in Berlin kaufen? Haben wir in Russland etwa keine guten Schneiderwerkstätten? Haben wir keine eigenen Traditionen und Moden?«, sagte er und schleuderte einen von Alexandras Parfümflakons auf den Boden.
Alle Anwesenden zuckten zusammen. Während sich die Zofen in den Hintergrund verzogen, beschäftigte sich Mary eingehend mit einem Stück Spitze. Adini kroch zu Olly und Charlotte aufs Sofa.
»Ich sage dir, es wird noch der Tag kommen, an dem ich eine Kleiderordnung erlasse, in der steht, dass zu Hofempfängen nur noch Galaroben in russischem Stil getragen werden dürfen.«
»Eine Kleiderordnung?« Verwirrt schaute Alexandra zwischen ihrem Gatten und ihrem eigenen Antlitz im Spiegel hin und her.
»Kannst du nicht ausnahmsweise einmal etwas anziehen, was aus unserenheimischen Werkstätten stammt? Das würde sich für die
Zarin gebühren!«
»Aber Liebster, ich habe Stunden gebraucht, um mich anzukleiden.«
Olly und Adini tauschten einen beklommenen Blick.
»Tue mir einfach den Gefallen, ja? Ich komme in einer halben Stunde wieder.«
Mit Mühe brachte Alexandra ein Lächeln zustande. »Dann wirst du mit meinem Aussehen zufrieden sein, ich verspreche es dir.«
»Das ist brav.« So, wie ihr Vater seine Frau tätschelte, lobte er auch ein Pferd, dachte Olly bei sich. Erleichtert sah sie, wie sich ihre Eltern im nächsten Moment umarmten.
»Ich an Ihrer Stelle hätte nicht so einfach klein beigegeben. Ihr Kleid war so schön!«, sagte Mary, kaum dass der Vater den Raum verlassen hatte. »Also, wenn ich erwachsen bin, dann –«
Alexandra unterbrach sie lachend. » Das , mein liebes Kind, wollen wir uns lieber gar nicht vorstellen!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Was soll’s, ein dummes Kleid ist doch keinen Streit wert. Und wenn’s euren Vater glücklich macht …«
Olly erwiderte das Lächeln ihrer Mutter. Dann erinnerte sie sich an ihr Anliegen.
»Mutter, was ich Sie fragen wollte: Wäre es möglich, für Mischa, den Bootsjungen, eine Brille besorgen zu lassen? Ich glaube, er sieht ziemlich schlecht. Und –«
»Olly, nicht.« Charlotte zupfte sie am Ärmel, doch Olly ignorierte die Gouvernante.
»Immerhin hat Mischa Kosty das Leben gerettet, da wäre eine Mildtätigkeit ihm gegenüber doch angebracht und – aua!«, rief sie, als Charlotte sie in den Arm zwickte. »Was ist denn?« Wütend funkelte Olly die Dänin an. Da hatte sie sich endlich ein Herz gefasst, und nun das!
In Charlottes hellblauen Augen mischten sich Entsetzen, Scham und Schuld.
»Der Bootsjunge ist tot, Olly. Er ist gestorben, während du krank warst. Anscheinend war es eine Lungenentzündung. Hätte seine Mutter den Arzt geholt, wäre er vielleicht noch am Leben, aber dafür hatte die Familie wohl kein Geld.«
5. KAPITEL
I m Herbst 1834 reisten die Zarin und ihre älteste Tochter nach Berlin ab – die sechzehnjährige Mary sollte in die Gesellschaft eingeführt werden.
Eigentlich hatte Olly geglaubt, dass sie Mary, vor allem aber ihre Mutter, schrecklich vermissen würde. Stattdessen genoss sie die Ruhe, die einkehrte, kaum dass Mary weg war.
Charlotte Dunker schien es nicht anders zu ergehen – nun, da Mary sie nicht mehr provozierte, war sie entspannt und fröhlicher als sonst.
Gemeinsam mit Adini und Mrs Brown machten sie lange Spaziergänge, auf denen sie sangen und kindisch umherhüpften – zumindest hätte Mary ihre Bewegungsfreude so genannt. Manchmal schlossen sich auch Kosty und sein Kindermädchen an, was ungewöhnlich war, da die Frauen normalerweise ihre Zöglinge eifersüchtig
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