Die Zarentochter
gehalten, durchfuhr ein heißkalter Schauer. Gewisse Ähnlichkeiten mit dem Bild waren vorhanden.
Unauffällig setzte Olly ihre Betrachtung fort: Er war nicht viel größer als sie, hatte schmale Schultern, einen schönen Mund, um den ein energischer Zug lag, dunkle Augen und buschige Augenbrauen, die in einem seltsamen Kontrast zu seinen feinen Gesichtszügen standen. »Beseelt« sah der Hundeführer zwar nicht gerade aus, aber irgendwie hatte er etwas an sich, was Olly sehr einnehmend fand. Sie seufzte auf.
Bisher war der ganze Wortwechsel auf Französisch vonstattengegangen, doch nun mischte sich ein älterer Mann in Jägergrün ein, wild gestikulierend und in Deutsch schilderte er den Jagdvorfall, in den Orpheus scheinbar unrühmlich verwickelt gewesen war. Olly verstand wieder einmal kaum etwas, wie so oft, wenn deutsch gesprochen wurde. Die Entgegnung des Hundehalters, alles sei ganz anders gewesen, verstand sie dagegen bestens.
Olly grinste. Weiter so! , hätte sie ihm am liebsten zugerufen, während der Hund sich inzwischen tot stellte.
Im nächsten Moment hob der Jäger sein Gewehr, stieß ein paar gutturale Laute aus und –
»Nicht schießen!« Olly riss sich von Anna los, sprang nach vorn und stellte sich schützend vor den Hund.
»Olly!«, ertönte es entsetzt aus mehreren Mündern gleichzeitig.
Nervös fuhr sie sich durch ihre Haare, die sogleich in alle Rich tungenabstanden. »Ich … Verzeihen Sie, ich will mich ja nicht einmischen, aber … Sie dürfen nicht …«
Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Olly schoss die Röte ins Gesicht. O Gott, was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihre Familie so zu blamieren?
Der junge Mann schaute sie fast genauso fassungslos an wie alle anderen, doch um seinen Mund spielte ein leises Schmunzeln. Er reichte Olly die Hand.
»Stephan, endlich«, hauchte sie und verschluckte sich fast vor Aufregung.
Der Hundehalter schaute sie stirnrunzelnd an. »Wie meinen Sie? Nun, jedenfalls vielen Dank für Ihre Hilfe. Aber unser Förster wollte lediglich nochmals demonstrieren, wie nervös Orpheus bei Schüssen wird. Sie glauben doch nicht, ich hätte etwas anderes zugelassen?«
Sprachlos schaute Olly zu, wie er seinen fröhlich mit dem Schwanz wedelnden Hund davonführte, als wäre nichts gewesen.
Ollys Knie waren weich und zittrig, und hätte Anna sie nicht gehalten, wäre sie zu Boden gesunken. Ihr war bewusst, dass Anna ihr fortwährend etwas ins Ohr zischte, den Sinn der Worte verstand sie jedoch nicht. Das prunkvolle Badeschloss, das sich in dem träge dahinfließenden Wasser der Lahn spiegelte, Sascha und die hübsche Cerise, ihr Vater, der ungeduldig von einem Bein aufs andere trat – vor Ollys Augen verschwomm alles. Stephan …
»Olly, träumst du? Was sollte dein Auftritt wegen des Hundes gerade eben? Spielen heute eigentlich alle verrückt?« Lachend wedelte Sascha mit seiner Hand vor ihren Augen hin und her. »Darf ich dir nun endlich meine Braut Cerise vorstellen?«
Nur mit Mühe wandte Olly den Blick von dem Mann ab, der mit seinem Hund in Richtung Lahn spazierte. Reflexartig gab sie dem jungen Mädchen die Hand. Doch bevor sie etwas dagegen tun konnte, sah sie erneut zu dem Hundehalter hinüber. »War das …?«, hauchte sie.
Sascha folgte ihrem Blick stirnrunzelnd. »Alexander, ja. Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist. Uns alle in solch eine peinliche Lagezu bringen! Normalerweise ist dein Bruder ganz anders, nicht wahr, Cerise?«
Die nächsten Wochen wurden fröhlich und sehr abwechslungsreich. Nachdem die erste Schüchternheit auf beiden Seiten verflogen war, verstand man sich von Tag zu Tag besser. Großherzog Ludwig von Hessen, der seinen russischen Gästen unbedingt etwas bieten wollte, wartete mit tausendundeiner Zerstreuung auf: musikalische Soireen, Kurkonzerte, Bälle, Ausflüge, Kaffeerunden, Weinverköstigungen – natürlich war das russische Zarenpaar überall der gefeierte Mittelpunkt. Bald hatten Nikolaus und Alexandra ihr Herz an Bad Ems verloren und sprachen davon, dort ein Sommerdomizil erwerben zu wollen. Die zukünftige Schwiegertochter hatte es ihnen ebenfalls angetan. Cerise würde später einmal eine wundervolle Zarin abgeben.
Auch Olly hatte spontan Gefallen an dem jungen Mädchen mit den hellen Haaren und den vollen Lippen gefunden. Cerise war fröhlich und unkompliziert, ohne dabei oberflächlich zu sein. Vielmehr war sie für ihr Alter schon ziemlich erwachsen. Auch hatte sie eine schnelle Auffassungsgabe und
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