Die Zarentochter
Vögeln vorsichtig ein Büschel von Orpheus’ ausgekämmten Hundehaaren hinlegte.
Cerises Bruder war wirklich ein ganz besonderer Mensch.
Gebannt beobachtete Olly, wie er mit ausgebreiteten Armen über einen gefällten Baumstamm balancierte. Am Ende angekommen, reichte er Olly seine Hand. »Jetzt Sie.«
»Das kann ich nicht!«, rief sie lachend, raffte aber im selben Moment schon ihren Rock. Durch die dünne Sohle ihrer Stiefel spürte sie die borkige Rinde. Mit angehaltenem Atem setzte sie Fuß für Fuß nach vorn, geführt von Alexanders festem Händegriff erreichte siesicher das Ende des Stammes. Voller kindlicher Freude hüpfte sie auf den weichen Waldboden. Da ertönte links von ihnen ein lautes Meckern.
»Das ist bestimmt Wilfried mit seinen Ziegen«, sagte Alexander. »Ab und zu streifen sie durch den Wald, die hiesigen Kräuter sind anscheinend eine wahre Delikatesse für die Tiere. Wollen wir ihn besuchen?«
Olly nickte begeistert.
Der Ziegenhirte war schon in Sichtweite und winkte ihnen freudig zu, als Alexander auf einer kleinen Erhöhung stehen blieb. Er hob die Nase in ähnlicher Weise, wie es sein Hund Orpheus tat.
»Riechen Sie es? Ein Kartoffelfeuer! Es steigt da hinten auf, sehen Sie die Wagen? Das sind Zigeuner. Mir war gar nicht bewusst, dass es schon wieder so weit ist.«
Was war wohl schon wieder so weit? Olly kniff die Augen zusammen, erst auf den zweiten Blick erkannte sie die Wagen im Schutz der Bäume.
»Fahrende Leute, die gibt’s in Russland auch«, sagte sie stirnrunzelnd. Einmal, als ihre Familie auf dem Weg nach Zarskoje Selo gewesen war, hatten diese Leute am Wegesrand ihr Lager aufgeschlagen. Ihr Vater hatte einen Wutanfall bekommen, als er sah, dass die Frauen der Zigeuner ausgerechnet in dem Teich, in dem Forellen für die Zarenfamilie gezüchtet wurden, Wäsche wuschen. Seine Leibgarde hatte die Leute auf der Stelle vertrieben.
Vergessen war der Besuch beim Ziegenhirten, schon steuerte Alexander auf die Wagenburg zu. Was will er dort, fragte sich Olly, während sie ihm folgte. Wohl war ihr dabei nicht. Wenn Anna erfuhr, dass sie sich in der Nähe von solchen Leuten aufgehalten hatte! Das würde ein Donnerwetter geben. Und wo waren eigentlich Sascha und Cerise?
»Alexander, wollen Sie nicht lieber Hilfe holen, um die Leute zu vertreiben? Allein ist das viel zu gefährlich.«
»Wieso vertreiben?«, sagte er über seine Schulter. »Vater hat den Zigeunern ein Liegerecht eingeräumt, sie kommen jedes Jahr um diese Zeit für ein, zwei Wochen in die Gegend. Irgendwo müssen sie ihrLager schließlich aufschlagen, und hier stören sie niemanden. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern auf einen Sprung bei ihnen vorbeischauen.«
»Oh«, sagte Olly mit leiser Stimme.
Selten hatte sie so zerlumpte Gestalten gesehen. Die Frauen ausgemergelt, die Kinder hohlwangig mit viel zu großen Köpfen, die Männer hager, die Pferde struppig und ebenfalls knochig. Ein paar Hunde, die sich ständig kratzten und glasige Augen hatten, lungerten in der Nähe herum. Erwachsene wie Kinder trugen durchscheinende Fetzen, die so löchrig waren, dass die geschicktesten Hände sie nicht mehr hätten flicken können. In dem Kartoffelfeuer, das sie schon von weitem gerochen hatten, kohlten fünf ärmliche Knollen vor sich hin. Und davon wollen die Leute satt werden?, fragte sich Olly entsetzt. Den Menschen hier ging es fast noch schlechter als den Bewohnern der Armenhäuser in St. Petersburg – die hatten wenigstens noch ein Dach über dem Kopf, während die Menschen hier in dünnwandigen Wagen ohne Heizung lebten.
Alexander starrte auf das magere Kartoffelfeuer. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er fragte: »Wo ist euer Anführer?«
»Unterwegs.« Eine der Frauen, die einen vor Schmutz starrenden Säugling auf der Hüfte trug, schaute Alexander feindselig an.
Die Blicke der anderen Umstehenden waren nicht freundlicher.
»Vielleicht sollten wir besser gehen«, murmelte Olly.
»Gleich«, sagte Alexander mit gesenkter Stimme, dann wandte er sich wieder an die Frau. »Ich bin Alexander, der Sohn des Großherzogs, mein Vater hat euch die Erlaubnis erteilt, auf unserem Land zu lagern. Ich –«
»Wir haben nichts Unrechtmäßiges getan!« Ein halbwüchsiger Junge, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, baute sich nun vor Alexander auf. »Bitte, jagen Sie uns nicht weg. Es geht uns schon elend genug.«
Alexander schaute ihn und die anderen Männer, die nun ebenfalls hervortraten,
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