Die Zarin der Nacht
doch, dass er nicht verheiratet ist, oder?«, antwortet sie scheinbar ganz unbekümmert. Es ist nicht nötig, mehr darüber zu sagen. Es kommt jetzt nur darauf an, das Kind zu beruhigen. Eine klare Linie vorzugeben. »Prinzessin Luise ist dem König gleichgültig, Alexandrine.«
»Woher weiÃt du das, Grandmaman?«
»Er hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, sie persönlich kennenzulernen. Und er ist Hunderte von Meilen hierher gereist, um dich zu sehen.«
Alexandrine blinzelt nervös. »Wieso sollte der König an mir Gefallen finden?«, fragt sie.
Offensichtlich war Miss Williams in ihren Bemühungen, ihrer Schülerin beizubringen, wie sie ihre Ãngste überwinden kann, wenig erfolgreich. Dabei hat Alexandrine, wie sie in ihrem Tagebuch berichtet, erst gestern eine sehr schwierige Ãbung mit Bravour gemeistert: Sie hat es geschafft, auf der kleinen
hölzernen Brücke im Park von Gatschina, die sie sonst immer im Laufschritt überquert, stehen zu bleiben. Gezählte fünfundzwanzig Atemzüge lang! Unter ihr das Tosen des Wasserfalls. Warum sollte die Brücke, so schreibt sie, ausgerechnet in dem Moment einstürzen, in dem ich da stehe? Bin ich so wichtig? Ist meine Furcht vielleicht nur ein Schleier, hinter dem sich ein Mangel an Demut vor Gott verbirgt?
Die Kaiserin schlingt den Arm um ihre Enkelin und zieht sie näher an sich. Die Wange des Kinds ruht an ihrem Busen. »Weil du schön bist und lieb und elegant. Und sehr, sehr wichtig.«
Alexandrines Körper ist weich und schmiegsam. Er bebt jetzt, denn das Kind schluchzt.
Lass sie weinen. Hat sie selbst nicht auch immer leicht geweint? Aus Freude und Leid, aus Enttäuschung und im Taumel des Triumphs. Weinen tut gut. Es hilft besser als Worte, als alles beruhigende Zureden der GroÃmutter. Noch mehr Tränen werden flieÃen, wenn Alexandrine erst einmal in Stockholm ist, fern von ihren Geschwistern. Fern von ihrer Grandmaman, die ihr beistehen könnte, wenn Zweifel über sie kommen.
Als das Schluchzen verebbt, fasst sie ihre Enkelin sanft unter dem Kinn und hält ihr ein Taschentuch hin. »Spuck rein«, sagt sie. Alexandrine gehorcht mit einem schüchternen Kichern. Das ist ein altes Kindheitsritual. Ein Taschentuch anfeuchten und damit den Kummer aus dem Gesicht wischen. Ihre Brüder streckten dann immer die Zunge heraus oder schnitten Grimassen.
Die beiden lachen bei dem Gedanken daran.
»Wie sind die Rosen in Gatschina diesen Sommer?«, fragt die Kaiserin. »Hast du welche gemalt?«
»Ja, diese lachsfarbenen. Ich fand einen sehr schönen Strauch in der Nähe der Brücke.«
Auf Alexandrines Wange hat sich das Muster der Goldstickerei auf dem Kleid ihrer GroÃmutter abgedrückt. Undeutliche Linien von Eicheln und Eichenlaub.
»Du meinst die kleine Holzbrücke über dem Wasserfall?«
Alexandrine stutzt kurz, bevor sie nickt. »Ja, Grandmaman«, sagt sie leise. »Wie hast du das erraten?«
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Als Alexandrine gegangen ist, klingelt die Kaiserin nach Anjetschka.
Ihre vertraute Hofdame kennt ihre Gewohnheiten gut: Sie bringt ungefragt ein Schälchen mit Vogelfutter und einen Spazierstock mit. Es ist ein robuster Stock aus Ebenholz mit einem in Silber gefassten Knauf, der zu einem Löwenkopf geschnitzt ist. »Venezianisch«, hat Le Noiraud mit Kennermiene gesagt. Sie hat es unkommentiert gelassen.
Bevor sie das Fenster öffnet, besteht Anjetschka darauf, ihrer Herrin einen dicken Wollschal über die Schultern zu legen. Ãberall drohen jetzt Gefahren; früher hätte sie keinen Gedanken daran verschwendet, dass vielleicht ein kühler Luftzug, ein bisschen körperliche Anstrengung ihrer Gesundheit schaden könnte.
Sie lässt sich geduldig von Anjetschka bemuttern.
»Sind Sie sicher, Majestät, dass es Sie nicht zu sehr anstrengt?«, fragt Anjetschka. Ihr Atem riecht nach Schokolade.
»Ja, keine Sorge. Ãffnen Sie das Fenster.«
Wir nutzen uns ab, bis nichts mehr übrig ist. Und dann zerfallen wir zu Staub.
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Alexander kommt am Mittag. Er trägt den grünen Rock mit den gestickten doppelköpfigen Adlern auf den Ãrmeln, den sie ihm kürzlich geschenkt hat. Ihr hübscher Monsieur Alexander mit dem kaum merklich angedeuteten Lächeln, das sie immer an Papa erinnert.
»Ich habe dir etwas mitgebracht, Grandmaman«, murmelt er und haucht ihr einen
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