Die Zarin der Nacht
Stellen, die nässen und bluten. Wie kann ein Zugpflaster dagegen helfen? Aber ihr Arzt kann ihr darauf keine Antwort geben, weswegen er nur betrübt mit dem Kopf schüttelt, gerade so, als wäre nicht so sehr die Krankheit als vielmehr diese Frage das eigentliche Ãbel.
Alexander sieht sie nachdenklich an. Ein Kind im Wald, das sich verlaufen hat und überlegt, was es jetzt tun soll. Mit neunzehn ist man extremen Stimmungsschwankungen ausgesetzt. Wenn seine Frau ihn eine Stunde lang anschweigt, stürzt er in Verzweiflung. Gut möglich, dass ihn das, was sein neuer polnischer Freund ihm unter vier Augen erzählt, auch schwer zu schaffen macht. Ihr ältester Enkel, ihr wahrer Erbe, muss erst noch lernen, dass nicht jede Liebe endlos währt und dass den Mächtigen am Ende nur wenige Freunde bleiben.
»Du hast noch nicht zu Ende gelesen, Grandmaman«, sagt er. Und er liest die letzten Zeilen laut vor:
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⦠auf dass die keusche Leidenschaft in ihrer Brust
alltäglich wachse immerfort
und ihre Liebe reichlich Früchte trage!
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»Es ist wunderschön, Alexander«, sagt sie, obwohl sie weiÃ, dass das Stück nur ein Vorwand war, sie zu besuchen. Er sieht sie bittend an.
»Nach allem, was ich höre, ist der schwedische König ein seriöser und gutherziger junger Mann«, sagt sie in unbekümmertem Ton.
Alexandrine wird eine gute Königin von Schweden werden. Die Verbindung wird ohne Zweifel viel Segen stiften. Das Reich gewinnt einen verlässlichen Verbündeten im Norden. Die Gefahr künftiger Kriege wird gebannt. Russland und Schweden werden einig zusammenstehen. Aber natürlich wird es nicht immer leicht für sie sein â unnötig, weitschweifig zu erklären, was Alexander selbst gut genug weiÃ. Auch er hat ja schon erste Enttäuschungen in der Ehe erlebt. Das Begehren schwindet, nicht alle Blütenträume reifen. Seine eigene Frau hat heiÃe, bittere Tränen vergossen.
Er hat immer noch diesen bittenden Blick. Der dumme Junge bringt es nicht über sich, die Frage auszusprechen, derentwegen er gekommen ist.
Sie beantwortet sie trotzdem: »Alexandrine muss Gustav Adolf nicht heiraten, wenn er ihr nicht gefällt. Das weià sie auch. Ich habe es ihr gesagt.«
Seine Augen leuchten auf. »Wirklich, Grandmaman?«, sagt er. »Das ist dein Ernst?«
»Ja.«
»Dann ist alles gut.«
»Alles ist gut.«
Das ist es, was Alexander hören wollte, denn er küsst sie und steht auf. Einen Moment lang schmiegt er sich an sie, als hätte er vergessen, dass er längst erwachsen ist.
»WeiÃt du noch, wie du mich bewachen wolltest, Alexander?«, fragt sie.
Er muss lachen. »Was wohl aus dem Schwert geworden ist?«, sagt er. »Es war mein ganzer Stolz.«
»Konstantin hat es zerbrochen. Aus Eifersucht.«
In ihrer Erinnerung sieht sie ein Kind mit vor Wut verzerrtem Gesicht. Sie hört ein Kreischen, das weit durch die Korridore hallt. Sie verdrängt das Bild aus ihrem Kopf.
»Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein.« Alexander schüttelt den Kopf.
Und dann ist er weg.
*
Jede weitere Ausdehnung des Reichs bringt einen Berg neuer Probleme mit sich. Vorgeschobene Grenzlinien bedeuten nicht nur Aufträge für neue Landkarten. Es müssen alte Gesetze der hinzugewonnenen Länder abgeschafft oder dem russischen Kodex angeglichen werden, neue Verwaltungseinheiten sind einzurichten, neue Steuern festzulegen.
All das ist innerhalb eines Tages zu erledigen: entscheiden, ob alle Polen, die sich als adelig bezeichnen, diesen Rang auch verdienen. Was ist mit denen, die ein halbes Dorf, ein paar Kühe besitzen, aber keine schriftlichen Belege für ihren adeligen Status? Was mit den Juden, die unter polnischer Herrschaft ihre eigenen Bräuche und Gesetze beibehalten haben? Sollte ihnen nun, als russischen Untertanen, gestattet werden, sich überall im Reich niederzulassen? Oder müssen sie in den Regionen bleiben, wo man an sie gewöhnt ist?
An ihrer neu gezogenen Ostgrenze schlagen die PreuÃen einen Landtausch vor. Vielleicht wären sie bereit, gegen Zugewinne im Norden auf Warschau zu verzichten.
»Du hörst mir nicht zu.« Le Noiraud blickt sie vorwurfsvoll an.
Der Wintergarten, in dem sie sitzen, liegt nur wenige Schritte vom kaiserlichen Arbeitszimmer entfernt. Im August besitzt der Garten nicht den Charme, den er im Winter als Zuflucht
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